#8 Wasserlandschaften

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Die siebte Etappe findet vom 21. – 29.September 2022 in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg statt. Sie führt mich von der Müritz der oberen Havel folgend zum Finowkanal. Von Waren aus gelange ich über Rechlin, Mirow, Fürstenberg und Zehdenick nach Eberswalde. Ich lege dabei insgesamt 260 km zurück und fahre im nordostdeutschen Tiefland durch die Mecklenburgische Seenplatte mit dem Nationalpark Müritz, streife das Neustrelitzer Kleinseenland und die Schorfheide. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne Abstecher und Umwege) auf komoot: (https://www.komoot.de/tour/296312137?ref=itd) (Zur Routenkarte müsst ihr dort etwas nach unten scrollen. Die auf dieser sich öffnenden Seite befindlichen Fotos und Texte stammen nicht von mir!)

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Der im Sommer ausgetrocknete Büsenbach

Der Sommer liegt hinter mir. Ein heißer Sommer voller Krisen. Einige sind scheinbar vorbei. Erst einmal. Vorübergehend. Einige dauern an. Das Leben wird insgesamt ungewisser. Trübe Aussichten sind das. Klimawandel mit extremen Wetterlagen, Krieg in Europa, drohender Energiemangel, staatliche Milliardeninterventionen. Alles Wechsel auf eine Zukunft, die ich wohl nicht mehr erleben werde. Aber erst einmal füllen sich die Flussläufe wieder, sind die großen Waldbrände gelöscht. Spüre ich noch Normalität. Aber das Niederschlagsdefizit sei nach wie vor hoch, sagen Expert*innen. Also ist nichts normal?

Die Bahn

Ich setze meine Reise fort. Mein gebuchter ICE zur Anreise über Berlin verspätet sich um vierzig Minuten. Das ist die neue Normalität des Bahnverkehrs, wie ich sie seit Wochen erlebe. Aber immerhin, ich erreiche Berlin. Mit mir im Fahrradabteil reist unfreiwillig in diesem Zug ein Australier auf dem Weg zur Fähre nach Schweden. Sein gebuchter Zug war ausgefallen. Nun muss er diesen nehmen und weiß nicht so recht, wie er dann weiter fahren kann. Er zeigt sich sehr verwundert über das ihm widerfahrene Bahnchaos. Das passt so gar nicht in sein Bild von Deutschland. Ich könnte ihm sein Bild so richtig verderben mit meinen Geschichten eines völlig verkorksten Bahnsommers. Bis zu drei ausgefallene Regionalzüge hintereinander erlebe ich. Pro Ausfall eine Stunde Wartezeit. Der vierte Zug dann, mit halbierter Platzkapazität, wird zur Sardinenbüchse, die unterwegs keine Zustiege mehr erlaubt. Drama an den Bahnsteigen. Das alles bei erhöhtem Fahrgastaufkommen, verursacht durch die dreimonatige Kurzzeitrevolution des 9-Euro-Tickets. Leider passt das nicht so recht zum Zustand der Infrastruktur des bundesdeutschen Bahnsystems. Chance vertan. Über ein Nachfolgemodell wird dann lange gestritten. Ende noch offen.

Ich erreiche Waren an der Müritz mit einem anderen als dem gebuchten Zug. Diese Regionalbahn ist auf die Minute superpünktlich. Geht doch. Meine nächste Etappe kann beginnen.

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Auf der Havel am Anleger von Kormoran Touring

Die Havel

Das Wasser ist klar. Ringsum eine große Stille. Es weht gerade kein Wind, keine Blätter rauschen in den bis in das Flussbett wurzelnden Erlen. Das Wasser ist spiegelglatt. Ich bin mit einem Kanu unterwegs, lasse kurz mein Paddel ruhen und genieße diesen Augenblick. Jetzt, in der auslaufenden Saison, ist das möglich. Da kommt keine Hektik auf. Das schillernde Gefieder eines Eisvogels lockt mich. Er weist mir den Weg, fliegt vor mir her. Ich folge ihm. Zur Hauptreisezeit im Sommer wäre das so wohl nicht möglich. Dann wäre es eng in den schmalen Wasserläufen zwischen den Seen. Da hieße es aufpassen und Kollisionen mit anderen Wassertouristen vermeiden. 

Paddeln auf der Havel

Wenn ich mir die Karte der mecklenburgischen und anschließenden brandenburgischen Seenlandschaft anschaue, so erscheint sie mir als große Wirrnis. Ein Durcheinander an Gewässern jeglicher Art. Und viele können von Menschen befahren werden. Mit Muskel- oder Motorkraft. Von einem in den nächsten See. Am besten immer der Havel folgen. Die von mir gewählte Strecke zwischen Käbelicksee und Umtragestelle hinter dem kleinen, von Schilfinseln geprägten Schulzensee mit dem Granziner See dazwischen, ist motorfrei. Hinter der einige Kilometer nördlich von hier befindlichen, neu gestalteten Havelquelle und drei kleineren Havelquellseen, sind der Fluss und die von ihr durchflossenen Gewässer nur mit dem Kanu befahrbar. 

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Blick in die Havel zwischen Granziner See und Käbelicksee

Der Zustand

Einige Tage vor Beginn dieser Etappe rief mich die Autorin einer polnischen Zeitung, der Gazeta Wyborcza, an. Sie arbeite gerade an einem Artikel über nachhaltigen Tourismus in Deutschland. Dabei sei sie auf meinen Blog gestoßen. Wie denn der Zustand der Flüsse so sei, die mir meinen Weg weisen. Was habe ich darauf für Antworten? Eigentlich keine. Ich bin nicht als Journalist, Wissenschaftler oder lokaler Experte unterwegs, nur auf einer Reise, auf der Durchreise. Ich sehe nur, was ich gerade sehe. Ich rieche nur, was ich gerade rieche. Ich höre nur, was ich gerade höre. Und gerade sehe ich klare Wasser, Fische darin, Wasservögel darauf. Wie es sein soll, oder? Es fließt ruhig dahin, mir unbekannte Wasserpflanzen breiten dicht unter der Wasseroberfläche prächtige hellgrün in der Sonne leuchtende Blätter aus. Die kleineren Blätter der dicht stehenden Erlen am Ufer darüber bewegen sich hin und wieder in einem lauen Windhauch. Wie immer, oder? Rötlich schimmern ihre Wurzeln, wo sie bis ins Wasser reichen. Kleine bunte Steine bedecken das Bett und leuchten in der Sonne, die da und dort die noch schmale Havel beleuchtet. Wie ist der Zustand der Havel, wie ist der Zustand der Leine, der Aller, Weser, Elbe, Elde? An allen hat sich mein Weg bis hierher orientiert. Aber konnte ich ihren „Zustand“ erkennen? Auf meinem weiteren Weg werde ich sehen, wie aus der Havel ein Kanal wird. Wie es auch bei anderen Flüsse vorkommt. Dazu kann ich eine Meinung haben. Ein kanalisierter, gezähmter, so begradigter Lauf des Wassers ist eines Flusses unwürdig. Ökologisch gedacht. Meiner laienhaften Meinung nach. Aber ökonomisch gedacht? Oder nach welcher Denke auch immer? Was ich über den „Zustand“ der Flüsse weiß, erfahre ich aus den Medien, und die wiederum erfahren es von Expert*innen. Und schreiben es mir in die Zeitung. ‚Hören Sie nicht auf mich, hören Sie auf die Wissenschaftler, hören Sie auf die, die am meisten betroffen sind‘“, wird Greta Thunberg in diesen Tagen zitiert. Bei den Wissenschaftler*innen kann ich ihr weitgehend zustimmen. Aber bei den Betroffenen? Meint sie damit die nutzlos gewordenen Kohlekumpel? Die flutgeschädigten Ahrtalbewohner*innen? Oder den Müritzfischer, der über „aktionistische Umweltschützer, Büro- und Eurokraten“ schimpft? Wie ist der „Zustand“ der Flüsse? So wie der im Sommer kurzzeitig fast trockenfallende Rhein? Die im August auf weiten Strecken mit toten Fischen gefüllte Oder? 

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Müritzufer
Brandung am Strand des Campingplatz Bolter Ufer

Die ‚Müritzfischer‘

Noch einmal genieße ich es, durch eine fischreiche Landschaft zu fahren. Geschmückt mit großen und kleinen Gewässern, eingerahmt von dichten Wäldern. Eben jene Seenlandschaft, die mir auf der Karte betrachtet als große Wirrnis vorkommt. Gleich in Waren, wo ich starte, mache ich Halt beim Fischerhof Waren der ‚Müritzfischer‘. Eine Fischsuppe nach der langen Anreise tut jetzt gut. Die ‚Müritzfischer‘ sind hervorgegangen aus einer Genossenschaft, die sich in den fünfziger Jahren unter DDR-Bedingungen gebildet hatte. Aus dieser reinen Fischerzunft ist heute die Müritz-Plau-GmbH hervorgegangen, die überwiegend mit und vom Tourismus lebt. Aus den ersten Geschäftsideen der Direktvermarktung auf Märkten der Umgebung wurden innerhalb der GmbH eigene kleine Unternehmenseinheiten mit speziellen Geschäftsfeldern. Ohne Gastronomie, saisonale Veranstaltungen, Angeltouren und Unterkünfte kann kaum noch eine Fischerei überleben. Dazu kommt der Verkauf von Satzfischen für Angelvereine. 

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Fischerbrötchen mit Blick auf die Boeker Teiche von Fischers Land

In Boek, wo ich am Bolter Ufer Quartier finde, ist natürlich der Verzehr eines „Fischerbrötchens“ für mich kulinarische Pflicht. Hinter der Theke steht eine junge Frau, die bis zum Ende der Saison hier und bis zum Beginn der nächsten im Onlineversand der ‚Müritzfischer‘ arbeitet. Ja, so ist das heute, auch Fisch ist Teil des großen Versandgeschäfts. Heute bestellt, morgen in der Pfanne. Ich greife zum Brötchen mit Stör und lasse es mir mit Blick auf die weitläufige Fischteichlandschaft an der Bolter Schleuse schmecken. In einem dieser Teiche wird wohl der tote Fisch auf meinem Bäckerstück gelebt haben, bevor er für den Verzehr gefangen und zubereitet wurde. Wie auch viele der im Ofen neben der Imbissrotunde gerade im Rauch hängenden Süßwassergesellen. So um die 15 Fischereihöfe, jeder mit seinem eigenen Charakter und die meisten der GmbH angehörend, gibt es im weiten Rund. 121 Seen und Gewässer – Fischteiche nicht mit gerechnet – bewirtschaften sie in dem großen Dreieck Kummerower See-Müritz-Obere Havel. Dort legen die Fischer*innen ihre Reusen und Aalschnüre aus, bringen ihre Stellnetze unters Wasser. Fischer*innen, die auf ihre Art versuchen, Ökologie und Ökonomie, Tradition und Moderne, altes Handwerk und neue Methoden miteinander zu verbinden.

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Kraniche über dem Rederangsee

Kraniche

Das hatte ich in meiner Planung nicht bedacht. Oder besser: ich konnte es nicht wissen. Ich melde mich zu einer Führung des Müritz-Nationalpark-Informationszentrums an. Es soll eine kurze Wanderung zum abendlichen Einflug der Kraniche zu ihren Übernachtungsplätzen am Rederangsee stattfinden. Für mich ein Pflichtprogramm. Denn jeden Herbst der letzten Jahre staunte ich über das Schauspiel, die riesigen Kranich- aber auch Wildgänseformationen über unseren Campingplatz in der Nordheide hinwegziehen zu sehen und zu hören. Diese Vogelzüge erscheinen mir wie eine Konstante in einer unsteter werdenden Natur. Ein funktionierender Kreislauf. Eine rhythmische Wiederkehr. Ich sehne diese Rufe in der Höhe über mir im Herbst geradezu herbei. Und jetzt habe ich an der Müritz die Gelegenheit, einen ihrer Sammelplätze erleben zu können. Was ich dabei nicht bedachte? Nach Ende der Führung habe ich zu meinem Quartier einen 15 Kilometer weiten Rückweg allein und einsam durch den Wald vor mir. Die vielen Wildschwein-Wühlspuren rechts und links des Weges, die ich auf dem gestrigen Weg von Waren aus entdeckt hatte, machen mich ein wenig nervös. Wie reagieren bei einer Begegnung? Ich finde niemanden, der mir dazu einen Rat geben kann. 

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Der abendliche Rederangsee vom Aussichtsturm aus

Zu der Führung treffen sich immerhin vierzig interessierte Menschen. Und erfahren, dass der Zug der Kraniche – meine Konstante in der Natur – stark in Veränderung begriffen ist. Der durch den Klimawandel bedingte Anstieg der Temperaturen in sich langsam verschiebenden Jahreszeiten hat enorme Auswirkungen. Nicht alle Kraniche ziehen im Winter mehr über die Alpen nach Afrika. Einige Populationen überwintern mittlerweile in Süddeutschland. Und in einem trockenen Sommer wie in diesem Jahr gibt es nicht mehr genug Futter zur Aufzucht der Jungen. Hinzu kommen schrumpfende Feuchtgebiete und Eintrag von Schadstoffen in die Umwelt. Der Zustand der Welt der Kraniche hört sich nicht gut an. Im Nationalpark werden sie so gut es geht geschützt. Jetzt, wo sie sich sammeln, ist der Zugang zu ihren nächtlichen Ruheplätzen überall gesperrt, um jegliche Störung zu vermeiden.

Einfliegende Kranichgruppen

Aus der Ferne schauen wir ihrem abendlichen Einflug zu. Vierzig Menschen auf dem eingerichteten hölzernen Hochstand schweigen, hören und sehen. Über uns die schrillen Trompetenlaute hunderter Tiere. Schwarze  Schatten vor dem sich rötlich färbenden Abendhimmel. Eine Gruppe nach der anderen schwebt ein. Aber da ist noch etwas. Ein Hintergrundgeräusch. Von der anderen Seeseite kommend. Dort, wo sich die Vögel niederlassen. Es ist das kehlige Röhren von Hirschen, ihr Brunftgedröhn. Welch ein Sound über dem abendstillen, spiegelglatten Gewässer. Da stört eine Fledermaus geradezu, die vor unserem Hochstand stumm hektisch hin und her flattert.

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Nächtliche Fahrt durch den Müritz Nationalpark

Und meine einsame nächtliche Rückfahrt danach? Verläuft völlig undramatisch. Mein Ebike hat einen kräftigen Scheinwerfer, der den Weg weit voraus erhellt. Kein Wildschwein weit und breit. Ein kleiner Hase hoppelt ins Gebüsch, eine Katze quert den Weg weit vor mir. Das wars.

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Gepflasterte Fahrradstraße durch den Wald bei Granzow
Leichter Regen auf Eichenblätter

Fahrradstraßen

Es ist immer wieder spannend, die tatsächliche Beschaffenheit der Wege vor Ort zu sehen, die ich am Tablet geplant habe. Meine App nennt mir Kategorien wie ‚loser Untergrund‘, ‚Kies‘ oder ‚Asphalt‘ und ihre genaue Lage auf der Karte. Aber die Realität ist dann und wann schon überraschend. Da wird auf dem Weg Richtung Mirow ‚Pflaster‘ angekündigt. Schon wird mir mulmig. Meiner Phantasie schweben Pflastersteine vor, diese alten buckeligen, die mir unterwegs schon häufiger begegnet sind. Meistens in kleinen Ortschaften. Diese Art Pflaster mag ich gar nicht. Mein Fahrrad mit 20-Zoll-Reifen und dem Faltscharnier ist dafür nicht sonderlich geeignet. Auch die Aufhängung meiner robusten Fahrradtaschen werden auf derartigen historischen Rüttelpisten arg strapaziert. Aber der in der App mit ‚Pflaster‘ kategorisierte Weg entpuppt sich als moderne, mit glatten Steinen gepflasterte Fahrradstraße mitten durch den Wald. Fahrradstraße durch den Wald? Ja, zumindest hier gibt es sie, ganz offiziell versehen mit den Verkehrszeichen 244-1 und Zusatz für die Anlieger 1020-30. Für mich ist das ein Novum. Und es bleibt nicht die einzige Fahrradstraße dieser Etappe durch Waldgebiete. Insgesamt komme ich gut voran. Zumal die unbefestigten Wege bis auf kurze Abschnitte überwiegend trocken sind. Der wenige leichte Regen, der dann und wann fällt, verschlechtert diese nicht. Ich komme gut voran. Nach Mirow ist mein nächstes Etappenziel Fürstenberg.

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An der Gedenkstätte Ravensbrück

Menschen gedenken

Wieder einmal begegne ich auf meinem Weg einem Gedenkort an die deutsche Vergangenheit. Dem Ort des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. Es ist für mich so etwas wie ein zweiter „Stolperstein“ auf dieser Reise nach der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg. Dort hatten mich am Ende eines Rundgangs aufgezeichnete Aussagen ehemaliger Häftlinge über das Leben „dazwischen“, ihrer Situation kurz nach ihrer Befreiung und vor ihrem wiedergewonnen neuen Leben besonders beeindruckt. Ihre komplizierte „Rückkehr“ in die Nachkriegsgesellschaft. In Ravensbrück wird das zum Thema einer sehr kleinen, aber umso intensiveren Ausstellung gemacht. Einzelne persönliche Gegenstände aus der Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden rücken die Geschichten individueller Schicksale im Jahr 1945 in den Fokus. Durch die Beschränkung auf diese Gegenstände – Bruchstücke, nach der die Ausstellung benannt ist – berührt sie mich stärker als das ganze Ausmaß der Todeslager in Zahlen und räumlichen Dimensionen. Ein Koffer, ein Trinkbecher, eine Zeichnung, ein Kartenausschnitt, eine Häftlingsjacke, ein Fensterrahmen und die geschriebenen oder in Interviews erzählten Erlebnisse, die damit verbunden sind, machen die Geschichte fassbarer. Besonders dort, wo sie aus verschiedenen Perspektiven dargestellt werden. 

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In Himmelpfort beim Briefkasten des Weihnachtsmanns

Das Weihnachtshaus

Ich habe noch einen Job zu erledigen. Mein Weg Richtung Zehdenick in die Landschaft der Ziegeleien führt mich durch Himmelpfort. Dort hat der Weihnachtsmann ein Büro. In meinem Gepäck warten drei liebevoll gestaltete Zettel mit den Weihnachtswünschen von Enkel und Enkelinnen. Was drauf steht, möchtet ihr wissen? Ihr Naseweiß, ihr Schelmenpack, meint ihr, er wäre offen, der …. Den Weihnachtsmann kann ich wohl sprechen, wir tauschen gemeinsame Arbeitserfahrungen der letzten Jahre aus. Es war nicht immer leicht für uns. Allein die Bartpflege ist ein Kapitel für sich und erst die Instandhaltung der roten Kutte und die Eigenwilligkeit der Rentiere und die elendige Schlepperei und die weiten Wege. Die Themen sind unendlich. Zwinker, zwinker. Aber das Gespräch – oder war es ein Selbstgespräch? – hilft mir, die Zeit bis zur Öffnung des Touristencafés und der Weihnachtsstube zu überbrücken. Tschüs, Weihnachtskumpel. Wir sehen uns! Ach so, da ist ja noch der Wünschebrief. Der findet seinen Platz im zuständigen Briefkasten, bewacht von Knecht Ruprecht. Oder wie immer der dauergrinsende Kobold heißen mag. Mein Reiseesel Easy Livin`nötigt mich zu dem ein oder anderen Erinnerungsfoto, dann reisen wir frisch gestärkt weiter.

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Alte Ziegelsteine in der Lufttrocknung

Eiszeitschlamm

Es ist gerade einmal so um die hundertunddreißig Jahre her, da war die Gegend links und rechts der Havel auf gut zehn Kilometern zwischen Marienthal und Zehdenick so etwas wie eine industrielle Wüste. Bis zu 40 Ziegeleien mit ihren rauchenden Schloten reihten sich aneinander. Sie verarbeiteten den Ton aus mindestens ebensovielen Tonstichen, also Tagebaugruben, ringsumher in der Landschaft. Ton, der wertvolle Rohstoff für die Ziegelproduktion. Ton, der als Schlamm von den eiszeitlichen Schmelzwassern mitgeführt, nach der letzten Eiszeit in dieser Gegend in einem Becken abgeladen und gelagert wurde. Bis er bei Eisenbahnarbeiten entdeckt und über ein Jahrhundert tausenden Menschen Arbeit gab. Schwere körperliche Arbeit. Auch noch, als Maschinen die Produktion veränderten. Die Arbeit an und in den heißen Öfen blieb. Weit aus dem Westen kamen in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zur Saison zwischen Frühjahr und Herbst Wanderarbeiter, spezialisiert auf Ziegeleiarbeit, in die Fabriken an der Havel. Über dreihundert Kilometer legten sie aus dem Lippischen in Westfalen hierher zurück. Ohne Öffis, ohne 9-Euro-Ticket oder SuperSparPreis. Häufig mit der ganzen Familie, Vater, Mutter, Kinder, alle mussten schuften.

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Ringofen im Ziegeleipark Mildenberg
O-Ton_Mix aus dem Ziegeleipark Mildenberg

Das alles erfahre ich anschaulich im Mildenberger Ziegeleipark. Skeptisch bin ich zunächst, ein Flyer läßt mich an so etwas wie einen Vergnügungspark denken. Doch auf mich wartet ein modernes Freilichtmuseum auf einem weiten Gelände in großen erhaltenen Industriebauten. Ausgestattet mit allen Mitteln aktueller Museumspädagogik. Film, Geräusche, Licht, Bilder, Schautafeln, zum Teil steuerbar durch die Besucher*innen. Alle Sinne werden angesprochen. Begehbare Hallen und Öfen, in denen Produktions- und Arbeitsprozesse veranschaulicht werden. Auf zwei Diesellokfahrten wird die Dimension der Industrieanlagen und Rohstoffgewinnung annähernd fassbar. Einer der Lokführer war früher noch Kapitän auf einem der Schiffe, welche Ziegel auf der Havel nach Berlin beförderten. Dafür gab es hier Hafenanlagen, die heutzutage von Freizeitkapitänen genutzt werden. Einen ganzen Tag nehme ich mir für den Besuch und sehe doch nur einen Bruchteil. Der Ziegeleipark Mildenberg kann sich in seiner Art durchaus mit den großen Industriemuseen der Kohle- und Stahlproduktion des Ruhrpotts messen.

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Seenspiegel

Aufmerksam auf diesen Ort wurde ich durch mein modernes Planungsinstrument der ‚Google Maps‘. Aus der Vogelperspektive blicke ich auf eine Kette aufgereihter, dicht beieinander liegender Teiche in direkter Nachbarschaft zur Havel. Wie ausgeschnitten wirken sie in dieser Ansicht, künstlich und unwirklich. Neugierig recherchiere ich. Es sind die alten Tonstiche, die mit Wasser voll gelaufenen Tagebaue. Seit ihrer Stilllegung hat sich die Natur diese wieder zurückerobert und mit Pflanzen und seltenen Tieren neu besiedelt. Auf meiner Fahrt durch diese Landschaft sind die Stiche nur hin und wieder sichtbar. Verborgen hinter Schilfbewuchs, Büschen und Bäumen gehören sie zu einem ausgedehnten Naturschutz- und Erholungsgebiet. 

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Weg durch den Wald an der Schnellen Havel bei Schluft

Rückfahrt

In Zehdenick teilt sich die Havel in ihren stark mäandernden Fluß- und einen parallel verlaufenden, gerade geführten Kanalteil, den Voßkanal. Dem folge ich bis Krewelin, dann verlasse ich meine Wegweiserin bis hierhin, die Havel, und nehme eine Abkürzung durch Wälder und Kulturland am Rande der Schorfheide. Da und dort wird mein Faltrad auf eine harte Probe gestellt. Es ist ja nicht für Offroad-Touren und uralte dörfliche Pflasterstraßen gebaut. Hinter der Müritzregion und der folgenden Seenlandschaft wird es jetzt wieder einsamer für mich. Fahrradtouristen treffe ich so gut wie gar nicht mehr. Mein Weg führt mich schlussendlich über eine Brücke der breiten Oder-Havel-Wasserstraße hinweg zum Finowkanal und an diesem entlang zum Endpunkt dieser Etappe nach Eberswalde. Ich kann es kaum glauben, aber am nächsten Tag kehre ich tatsächlich mit pünktlich fahrendem Schienenverkehr zurück nach Hannover.

Von mir verfasst im Oktober und November 2022. Es folgen Eindrücke in bewegten Bildern von unterwegs. Die neuen Leser*innen heiße ich herzlich willkommen. Es grüßt euer „Alter Mann am Fluss“.