Geschichten vom verschwundenen Esel

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“Hee, alte Socke, du Klappergestell. Hebe die Baane und sspute dich schnell. Mach ma hinne, altn Sstokelfritze. Los doch, gib Gummi und mach dich auf daane Hackn.“

Esels Mostrich, aus: Wegweisungen nach Bad Muskau.
Bernhard Weiland. Verkannten Verlag 2016

Wann genau Easy Livin‘ in mein Leben trat, vermag ich nicht mehr zu sagen. Vielleicht um die Jahrtausendwende? Zu der Zeit fuhren meine Frau Petra und ich in Westafrika mit unseren Fahrrädern den Gambiariver entlang. Ich erinnere mich vage an eine Szene auf einer überfüllten Fähre hinüber nach Farafenni auf der Northbank-Seite. Easy Livin‘ thronte hinten auf dem umfangreichen Reisegepäck meines Drahtesels. In dem unangenehmen Gedränge Mensch an Mensch auf dem rostigen Seelenverkäufer hatte er nichts besseres zu tun, als ungeniert mit den schwarzen Frauen zu schäkern. Typisch! Das Stöbern in meinem Fotoarchiv – dem digitalen, also viel zu vollen – fördert Bilder mit dem Stoffesel allerdings erst aus dem Jahr 2002 zutage. Also sehr viel später. Sie entstanden während einer Fahrradreise durch Korsika, die anschließend über Sardinien aufs Festland in die Toskana führte.

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Im toskanischen Tarotgarten von Niki des Saint Phalle/Italien 2002

Ein zeitloses Plüschtier

Wer oder was ist Easy Livin’? An dieser Stelle bin ich wohl eine Erklärung schuldig. Easy Livin‘ ist eine kleine Handpuppe, ein Plüschtier in Gestalt eines lieblichen dauergrinsenden Esels. Ein Geschenk meiner Familie, wann und wo liegt, wie gesagt, im Nebel der Vergangenheit. Seit Jahrzehnten begleitet er mich auf Reisen, ziert in der Nichtreisezeit mein Kopfkissen und mittlerweile auch ab und an das Fenster unseres stationären Wohnwagens in der Nordheide am Seerosenteich. Er hat viel von der Welt gesehen, seit er bei mir ist. Im Unterschied zu mir jedoch zeigt er keine Anzeichen von Alterserscheinungen. Er erscheint falten- und bauchfrei, jung und dynamisch, gehört keiner Risikogruppe an, benötigt keine täglichen Pillen und keine Boosterimpfungen, hat keine Probleme mit Prostata oder Kniegelenken. Ich kann ihn nur beneiden. Unterwegs auf Reisen ist er immer wieder Anlass für Gespräche mit anderen Reisenden ob jung oder alt, schwarz oder weiß, egal welchen Geschlechts. Er fällt eben auf. Vielleicht auch gerade deshalb, weil er mit mir reist, dem weißhaarigen alten Mann. Der vielen Fragen wegen, die mir unterwegs immer wieder gestellt werden, will ich hier einmal einige Episoden aus seiner Geschichte bis zur Gegenwart aufschreiben.

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Auf Baltrum 2006

Ein Eselsersatz

Eigentlich ist Easy Livin‘ der Ersatz für ein lebendiges Eselstier und zeugt von der Zeit, in der ich mit dem Gedanken schwanger ging, einmal mit einem ebensolchen zu reisen. Die Vorstellung vom langsamen Durchstreifen deutscher Landschaften mit einem lebendigen begleitenden Gepäckträger, kleiner als ein Pferd, faszinierte mich in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Ich besorgte mir Literatur zur Eselshaltung, fuhr zu diversen Treffen der Eselsfreunde in der Republik. Ich streifte durch Hannover rund um meinen Stadtteil herum, um einen Platz für den noch virtuellen Esel zu suchen. Ein Esel lebt nicht gern allein, sondern bevorzugt für sein tierisches Seelenheil Geselligkeit von Artgenoss*innen. In der Stadt oder in der Nähe fand ich keine Möglichkeit, einen derart passenden Lebensraum für das Tier zu finden. Als letzte meiner gesuchten Unterbringungsmöglichkeiten lehnte ein hannoverscher Stadtteilbauernhof ab, da ein lautierender Esel eine Lärmbelästigung und somit in Wohngebieten nicht gestattet sei. Und ich musste mir überlegen, ob ich mein Leben wirklich auf Dauer an ein Tier binden wollte. Wollte ich nicht. Ein Esel ist ein Tier und ein Tier verlangt ständige Verantwortung, Zuwendung und Arbeit. Und kurzzeitig einen zum „Benutzen“ zu kaufen, um ihn danach wieder zu veräußern? Wollte ich nicht. So verwarf ich irgendwann meinen schönen Traum.

Esel, der 1.

So kam – wahrscheinlich irgendwann an einem Geburtstag – Easy Livin‘, der I., zu mir, der Plüschesel als Ersatzesel, klein, leicht und handlich, der mich auf allen Reisen begleiten sollte. Und der mir unterwegs ans Herz wuchs. So sehr, dass ich ihn mir einmal sogar per Luftpost nachsenden ließ, nachdem ich ihn mit meiner Vergesslichkeit bedacht hatte. Bis in den hohen Norden Norwegens auf die Vesterålen, wohin mein Sohn während eines Auslandssemesters in Schweden eine Vater-Sohn-Reise organisiert hatte. Aber das ist eine andere Geschichte, die den Rahmen dieser Erzählung bei weitem sprengen würde.

Ein Esel, das wissen alle, hat ein störrisches Wesen. Eines schönen Tages – nach Jahren gemeinsamer Fahrradtouren mit ihm in verschiedenen Landschaften und Ländern zwischen Hannover und West-Afrika – fuhren meine Frau und ich durch die niedersächsische Heide. Der kleine Esel hatte mittlerweile einen Reisegefährten bekommen, Pittiplatsch den Lieben, das schwarze Reisefaktotum meiner Frau, seit 60 Jahren bekannt aus den Gute-Nacht-Geschichten des DDR-Sandmännchens. Wir fuhren Richtung Hamburg zu Sohn und Schwiegertochter und entschlossen uns in Handeloh, die letzten Kilometer mit dem Regionalzug über Buchholz dorthin zurückzulegen. Der Esel fand im von jugendlichen Tourist*innen überquellenden Zug (ja, das gab es damals schon ohne 9-Euro-Ticket!) Platz neben unseren Gepäcktaschen auf der Gepäckablage. Im Stress des Ausladens und Umtragens der Fahrräder samt Gepäck beim Umsteigen in Buchholz blieb Easy Livin‘ vergessen zurück und reiste wohl als unbegleitetes Kuscheltier weiter. Als Pittiplatsch das merkte, sagte er traurig „Ach du meine Nase“ und wollte sich sofort allein auf die Suche machen. Wir konnten ihn überzeugen, es mit uns gemeinsam zu tun.

4Esel_Mit Pittiplatsch auf Mallorca 2004
Mit dem Fahrrad durch Mallorca 2004

So kam es bei Ankunft in der Hansestadt zu einer skurrilen Szene. Vier erwachsene Menschen und ein Pittiplatsch begaben sich im Hamburger Hautbahnhof zum Fundbüro der Deutschen Bahn. Ich vorne weg, wie immer mit Fahrradhelm auf der Birne, Frau, Sohn und Schwiegertochter im Gänsemarsch hinterdrein. Heitere Sprüche wurden in meinem Rücken ausgetauscht, begleitet von fröhlichem Glucksen. So im Stil einer öffentlichen Lautsprecherdurchsage „Der kleine Berni hat seine Mama verloren“. Diese gelöste Stimmung hielt an, während ich ernst an den Schalter trat, um einen bürokratischen Vorgang zu initiieren: Eine Verlustanzeige. Was ich denn verloren hätte? So, so, einen Esel? Im Zug? Ach so, eine kleine Plüschfigur, hm, hm. Bei der genauen Beschreibung, die er nun aufnehmen musste, schaute der Beamte mehr sparsam als belustigt, was wiederum die Heiterkeit in meinem Rücken noch beförderte. Da stand ein erwachsener Mann am Schalter und wollte die Deutsche Bahn motivieren, einen formellen Suchvorgang nach dem plüschigen Kuscheltier des weiß behaarten Herrn im besten Alter zu starten. Nun ja, EasyLivin‘ wurde genauestens beschrieben und landete als Vorgang mit Aktenzeichen im System, wo bereits Schirme, Taschen, Brillen, Koffer, Hüte, Schlüssel, Brieftaschen, Jacken, Marihuana, Sportbeutel, kleine Kinder, Hunde, Klarinetten und Labormäuse auf Abholung warteten. Eine Mitteilung, dass er gefunden worden sei, erhielt ich nie. Easy Livin‘, der I., hatte sich verdünnisiert. 

Esel, der 2.

Nun, auch wenn der verschwundene Easy Livin‘ mir ein sehr persönlicher Begleiter geworden war, so entstammte er doch industrieller Massenproduktion. So erspähte ich ihn kurz nach seinem Verschwinden in identischer Erscheinung im Schaufenster eines stadtbekannten Sportkaufhauses. Ich zahlte an der Kasse den vorgegebenen Preis und nahm ihn wie gewohnt auf meine Reisen mit. In seinem Charakter und seiner Rolle erschien mir diese Version unverändert. Er war und blieb mein Reiseesel. Und wurde danach zu einem wichtigen Protagonisten meiner Wanderung von Hannover nach Bad Muskau.

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Bei Artgenossen im Eselshof Nessendorf 2008

Auf dieser Reise erfuhr ich endlich auch ein wenig mehr aus dem Leben meines bis dahin nicht sehr redseligen Reisebegleiters. Easy Livin‘, der II., spricht wie sein Vorgänger hannöversch. Einer alten Adelsfamilie aus dem Calenberger Land entstammend und völlig aus der Art geschlagen, verließ er den Landsitz der Familie und verbrachte seine rebellische Jugend im tiefsten Linden-Nord in Hannover an der „Laane“. Mit seiner hannöverschen Mundart und seiner unkonventionellen Art kam er dort gut an. Das prägt ihn bis heute. Man mag es ihm verzeihen, hat er doch ein gutes Herz. Allerdings auch einen Makel. Er ist faul wie die Sünde und macht keinen Schritt allein. Er läßt sich transportieren. So nach dem Prinzip ’easy living’ eben. Woher sein Name kommt? Na, is doch klar, vom gleichnamigen Hit der Hardrockband ‚Uriah Heep‘, seiner Top-Band aller Zeiten. Wenn ich ihn ärgern will, lege ich ‚Deep Purple‘ auf. Aber das ist auch wieder eine andere Geschichte.

15Esel_Auf dem Weg nach Bad Muskau_2015
In den Mirabellen auf dem Weg nach Bad Muskau 2015

Seinen Hang, das Weite zu suchen, muss in der DNA dieses Grautieres liegen. Auf selbiger Wanderung nach Bad Muskau begab es sich, dass auch Easy Livin‘, der II., verschwand. An einem Mirabellenbaum zwischen Borne und Biere im Salzlandkreis von Sachsen-Anhalt machte ich auf meiner Wanderung damals halt und erfreute mich an den knallegelben süßen Früchten am Wegesrand. Wie vorher schon an Äpfeln, Birnen und Zwetschgen. Diese Wanderetappe führte uns durch ein wahres, für alle offenes  Früchteschlaraffenland. Auch mein kleiner Reiseesel haute ordentlich rein, er ließ sich da nicht lumpen. Ich durfte ihn sogar seelenruhig dabei fotografieren. Der weitere Weg zu Fuß mündete dann leider auf eine vielbefahrene Straße, die meine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Es half nichts, bis Biere, meinem Ziel, mußte ich ständig vom Asphalt auf den Seitenstreifen und zurück hüpfen. Dort hieß es, konzentriert zu sein und den Verkehr auf beiden Spuren zu beachten, um angemessen reagieren zu können. Ich wollte ja heile ankommen. Das klappte dann auch. Vor der gebuchten Pension stellte ich mein Wanderwägelchen zum Einchecken ab. Erst da bemerkte ich – Schreck lass nach – Easy Livin‘, mein herzallerliebster Reiseesel, war wieder einmal verschwunden. Katastrophe! Der Pensionswirt reagierte auf den alten Mann, der sein Kuscheltier vermisste, ziemlich cool. Er stellte mir sein persönliches Mountainbike zur Verfügung. Und ab ging die wilde Jagd – sieben Kilometer zurück, bis zum Mirabellenbaum, dem letzten gemeinsamen Aufenthaltsort, dem Ort des seelenruhigen Fotoshootings. Allerdings ohne Ergebnis. Mein Grautier hatte sich mal wieder davon gemacht. Ärgerlich! Nach der Etappe zuhause angekommen, schrieb ich die örtlichen Lokalzeitungen im Umkreis des Verlustortes an. Ich bat um Veröffentlichung eines selbst verfassten kurzen Textes als Aufruf zur Suche meines Esels. Sogar ein Foto fügte ich bei. Die rührende Geschichte mit Eselsportrait fand jedoch keine Beachtung. Die Käseblätter reagierten mit keiner Zeile auf meine Bitte. Schade auch. Ich hätte mich bestimmt erkenntlich gezeigt.

Esel, der 3.

Eines Tages, Wochen später, ich hatte meine Trauerkleidung längst abgelegt, öffne ich meinen Briefkasten. Und wer grinst mich an? Easy Livin‘, der III. Meinen intensiven Befragungen nach seinem Verbleib und seinen Erlebnissen hielt er stand. Nie gab er etwas preis von seinem zwischenzeitlichen Verbleib oder wer ihn gebracht hatte, nach dem Motto „Der Kavalier schweigt und genießt.“ Ich ließ ihm sein Geheimnis, war ich doch über alle Maßen froh, ihn als treuen Reisegefährten wieder an meiner Seite zu haben. Und als Kommentator meines ungewöhnlichen Reiseprojekts zum Park des Fürsten von Pückler an der polnischen Grenze.

Die nächste längere Reise, die Easy Livin‘, der III., mit mir antrat, sollte uns im öffentlichen Nahverkehr nach Westen, Osten, Norden und Süden quer durch die Bundesrepublik führen. Dazu gehörten auch zwei Wanderungen. Eine fand auf einem Teilstück des Klosterwanderwegs am Harzrand statt. Die Wege waren schlecht, feuchter Schnee, Pfützen und schlammiges Geläuf machten mich mürbe. Nach einem anstrengenden Tag bezog ich mein Quartier im Kloster Drübeck zwischen Goslar und Wernigerode. Da hatte ich wieder so ein Déjà-vu. Beim Ordnen meines Gepäcks auf dem Zimmer stellte ich verwundert fest, dass mein Reise-Esel Easy Livin schon wieder verschwunden war. Mannomann. Zuletzt, so meinte ich mich zu erinnern, meine kleine Handpuppe in der Nähe von Abbenrode auf einer Sitzbank, die eine als Engelsflügel stilisierte Lehne hat, gesehen zu haben. Derartige Sitzgelegenheiten sind entlang des Klosterwanderweges aufgereiht. Hatte ich meinen langjährigen Reisebegleiter, meinen Talisman, Glücksbringer und guten Geist gleichermaßen, dort nach einer Rast unbegleitet zurückgelassen? Das sähe mir ähnlich. Mittlerweile wäre er dann schon das dritte Exemplar, das mir über die Jahre auf die ein oder andere Weise abhanden gekommen ist.

6Esel_Sonnenuntergang im Wadi Rum_Jordanien 2006
Abendstimmung im Wadi Rum/Jordanien 2006

Da am letzten Tag dieser Etappe ausreichend Zeit war, wollte ich mit dem Bus noch einmal zurück an den vermeintlichen Ort des Verlustes fahren, um mich auf die Suche zu begeben. Beim Verlassen des Klostergeländes in Richtung Bushaltestelle traf ich einen der evangelischen Gottesmänner, die in dem Konvent gerade eine Tagung abhielten und mit denen ich gestern beim gemeinsamen Abendessen geplaudert hatte. Er wünschte mir eine gute Reise, auf dass ich immer finde, was ich suche und fragte noch, ob er mir Gottes Segen mit auf den Weg geben dürfe. Ich hatte nichts dagegen und dachte mir: wenns denn hilft. Ich interpretierte es als freundliche Geste. Im Bus sitzend, klangen mir seine Worte nach. Ich stutzte, dachte: Hhmm? Warum wünscht er mir, zu finden, was ich suche? Von dem Verlust meines Plüschesels hatte ich doch kein Wort erwähnt. Merkwürdig. Sollte das etwa ein gutes Omen sein?

War es dann letztendlich nicht. Ich suchte nach meinem Grautier, schaute mich überall um, beschrieb ihn Einheimischen, die ich in der Nähe traf, im Stile eines Steckbriefs und bat sie, nach ihm Ausschau zu halten. Doch auch Easy Livin‘, der III., blieb auf ewig verschwunden.

Esel, der 4.

Die vierte Version des Grautieres schenkte mir meine Frau. Das erschien mir dann auch schon wie ein halbwegs normaler Vorgang, bei meinem Kuscheltierverschleiß. Sei es wie es sei. Der „I-A“, wie ihn meine Enkel*innen in jüngsten Jahren ansprachen, ist wieder da. Möge er ab jetzt immer mit mir sein. 

Fortsetzung folgt? Wir werden sehen.

12Esel_Im Alcazar von Sevilla_Spanien 2012
Im Alcazar von Sevilla/Spanien 2012