#7 Elbe, Elde, Müritz.

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Die sechste Etappe findet vom 4. – 11.Mai 2022 in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern statt. Sie führt mich an Sude, Krainke, Elbe und Elde zur Müritz. Von Boizenburg aus gelange ich über Neu-Darchau, Dömitz, Grabow, Parchim und Plau am See nach Waren/Müritz. Ich lege dabei insgesamt 272 km zurück und fahre im norddeutschen Tiefland durch die Elbtalauen – heute Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe, das mecklenburg-brandenburgische Platten- und Hügelland und weiter zur Mecklenburgischen Seenplatte. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne Abstecher und Umwege) auf komoot. (Die Routenkarte befindet sich am Ende der sich öffnenden Seite. Die davor erscheinenden Fotos und Texte stammen von anderen Nutzer*innen!)

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Nach dieser Erde wäre da keine,

Die eines Menschen Wohnung wär.

Deshalb Menschen achtet und trachtet,

Dass sie es bleibt.

Wem denn wäre sie ein Denkmal,

Wenn sie still die Sonn‘ umtreibt.

(Kanon, in den 80ern gesungen auf Straßen und Plätzen)
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Ungewöhnliche Zielangabe

Flüchtig

Und wieder bereiten sie sich auf die Ankunft von Flüchtlingen vor. Wie schon einmal 2015, als Menschen aus 14 Nationen hier vorübergehend Zuflucht fanden. Eine komplizierte Zeit für die Einheimischen im 100-Seelen-Dorf Sumte. Kurzfristig vergrößerte sich die Einwohnerzahl um bis zu 750 Menschen. Sie fanden Platz in einem bis dahin leerstehenden Bürokomplex, einem Dorf im Dorf. Trotz vieler Befürchtungen ging alles gut. Jetzt, sieben Jahre danach, wird dort erneut Platz geschaffen. Diesmal für Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Wieder wurde in vielen ehrenamtlich geleisteten Stunden von zahlreichen freiwilligen Helfer*innen aus der Umgebung in den 18 Häusern alles noch einmal hergerichtet, um einen ersten Zufluchtsort zu schaffen. 

Kurz vor der Elbfähre nach Neu Darchau erreiche ich die Straße nach Sumte. Es ist Zufall, dass ich auf dieser Reise dort vorbeikomme. Das beschauliche Dorf liegt nur wenig abseits meiner selbstgewählten Route. Beinahe verpasse ich den Abzweig. Ich mache den kleinen Umweg. Vor dem Eingang der Flüchtlingsunterkunft treffe ich freundliche DRK-Mitarbeiter*innen, die sich über mein bescheidenes Mitbringsel – nicht mehr benötigte Kleidung unserer Enkel – ehrlich freuen. Nach kurzem Plausch über Woher-Wohin wünschen sie mir noch einen guten Weg und ich ihnen noch viel Erfolg in ihrer sinnvollen Arbeit. Und fahre durch das kleine, so ganz normal scheinende Dorf wieder zurück auf meinen weiteren Weg. Dabei überhole ich zwei alte Menschen, Mann und Frau, der Sprache und den Umständen nach offensichtlich aus der Ukraine stammend. Sie gehen auf dem Fuß- und Fahrradweg in meine Richtung. Ich überhole sie und fahre an ihnen vorbei. Wo wollen sie wohl hin? In den nächsten größeren Ort sind es um die 5 km, das ist ziemlich weit. Mensch, Bernhard Weiland! Was glaubst du, was die hinter sich haben! Unter welchen Umständen sie vielleicht viel weiter gehen mussten! Spekulation. Aber was geht einem nicht alles durch den Kopf in diesen Tagen.  

Fähre oder Brücke

Ich starte in Boizenburg. Da ich ein Fähren-Fan bin, gab es für die Planung dieser Etappe schon mal zwei Fix-Punkte: die Fähre nach Neu-Darchau hinüber über die Elbe und die von Hitzacker wieder herüber. Damit sind fast zwei Tagesetappen festgelegt. 10 km hinter Boizenburg mache ich eine erste Rast an der Sude bei Friedrichsmühlen, noch bevor ich das Gebiet des Amt Neuhaus erreiche. Da mein Weg für eine kurze Strecke auch auf dem Elberadweg verläuft, begegne ich am frühen Morgen schon einigen Fahrradtouristen. Und höre oder sehe Gänse, Störche, Frösche, Reiher, den Kuckuck, Schwalben, Rehe, Kraniche, Schafe, Kühe, Lerchen und Schwäne. Über allem das lokale internationale Vogelgezwitscher. 

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Grenzdenkmal

Wer in diesem Landstrich in der Nähe der Elbe entlangfährt, wird allenthalben auch auf markante Relikte der jüngeren Geschichte stoßen. Wie in Konau, etwas abseits meiner Route. Ein Dorf mit einer gut ausgestatteten Touristeninfomation und einem Minimuseum, in dem Geschichten über Menschen und ihr Leben im ehemaligen Grenzgebiet der DDR erzählt werden. Am Fähranleger in Darchau gibt es zu meiner großen Freude ein Café mit vorzüglichem Angebot und bestem Blick auf den emsigen Schiffsverkehr hinüber und herüber. Dieser wiederum ist auf der anderen Seite im Ort gerade Gegenstand lebhafter Diskussionen. Es gibt Planungen für eine Brücke über die Elbe, die den Fährverkehr überflüssig machen würde. Den vielen Plakaten und Bannern zufolge, die im Ort hängen, scheint Neu Darchau gespalten zu sein. Nachbar*innen Tür an Tür mit konträren Meinungen. Dafür oder dagegen. Brücke oder Fähre. Ich bin für Fähre. Aber ich wohne ja auch nicht hier. Und muss nicht regelmäßig den Fluss überqueren. 

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Klangschalenpark Neu-Darchau

Klänge am Flussufer

Da muss erst mal einer drauf kommen! Und einer kam drauf. Ein Meeresphyiker, Dr. E. Bäuerle, der gemeinsam mit dem örtlichen Verein „elbDORFaktiv“ in Neu Darchau einen Klangschalenpark erschuf. Der größte Deutschlands? Weltweit sogar? So wird geworben, allerdings weiß das sicherlich niemand so genau. Es soll ja auch noch einen ‚WasserKlangPfad‘, inspiriert vom gleichen Ideengeber, beim „Naturum Göhrde“ geben. Aber das ist für mich nebensächlich. Es ist einfach eine grandiose Freiluftidee. Im Hintergrund höre ich die Klänge der Elbfähre, das Konzert der Vögel, das lebhafte Gespräch von Menschen, die diesen auch ‚wunderpunkt’ benannten Veranstaltungsort gerade für Besucher*innen und Veranstaltungen vorbereiten. Und mittendrin versuche ich mich am Erzeugen von Klängen. Um mich herum bis zum Elbufer über das Gelände verteilt finde ich diverse metallene Klangschalen, unterschiedlich gefüllt mit Wasser und von Rost gefärbt, und eine Klangröhren-Installation. Vorsorglich habe ich ein handliches Schwemmholz, unterwegs am Elbestrand aufgelesen, zum „Klangschlagen“ dabei. 

O-Ton-Mix vom Klangschalenpark am Fähranleger Neu-Darchau
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Wasserstrukturen, erzeugt durch Klänge

Jede Schale klingt anders. Jeder Schlag erzeugt spannende Strukturen im inwendigen Wasserreservoir. Und mit der Faust locke ich die tiefen, dunklen Töne hervor und bringe damit das Wasser sogar zum Springen. Meinen Kontrabassbogen zum Streichen des Metallrands hätte ich noch dabei haben müssen. Damit hätte ich das Spektrum der Klangfarben bestimmt erweitern können. Sei es wie es sei. Mit meinem digitalen Mikrofon mache ich auf gut Glück einige Aufnahmen. In der Hoffnung, zuhause am Rechner eine kleine Klangcollage für diesen Blog basteln zu können. Der ‚wunderpunkt‘ lohnt in jedem Fall einen Besuch. Zumal es am Rande noch eine hochinteressante Freiluft-Fotoausstellung gibt. Die Fotografin B.Stachowske zeigt Bilder vom Seenotrettungsschiff „Sea Eye“ und Porträts von einem Kinderparlament in Malawi mit erläuternden Texten. Eine tolle Idee, so etwas an diesem Ort zu präsentieren.

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Blick über die Elbe vom Aussichtsturm Kniepenberg

Hoch und runter

Der Elbhöhenweg bis nach Hitzacker wäre für mich auf dem normalen Tourenrad oder gar auf meinem Liegerad mittlerweile eine ziemliche Herausforderung. Da hätte ich schon meine liebe Mühe, denn sieben bis siebzehnprozentige Steigungen werden angezeigt. Aber Bernhard fährt ja E-Bike – genauer: Pedelec-, also ist das ziemliche Auf und Ab kein Problem. Und der Weg – obzwar auf der Straße geführt – ist hoch über der Elbe immer wieder mit herrlichen Ausblicken gespickt. Und an diesem morgen hält sich der PKW-Verkehr so sehr in Grenzen, dass ich auf einer Bank sitzend die Stille genießen kann. Kein Dauerrauschen. Nur der entfernte Singsang der Vögel. Ab und zu ein Lufthauch, der das Schilfgras unmerklich in Bewegung setzt und die Federköpfe hin und her wiegen läßt. Gänserufe hallen weit weg unten vom Fluss herauf und von den Höhen als Echo wieder zurück. Der Strom fließt glitzernd und träge dahin. Im Takt der vom gegenüber liegenden Ufer hineinragenden Buhnen gestört, bildet er Strudel, die sich langsam und ruhig wieder in das Fließen der Mitte einordnen. Was so idyllisch erscheint, ist dem ökonomischen Zweck des Flusses geschuldet. Die Strudel bildenden Buhnen sollen die Fahrrinne für den Schiffsverkehr schützen. Ich fahre weiter und gelange von den Höhen wieder hinab bis fast auf das Niveau des Flusswasserspiegels. Dort bin ich umgeben von vielfältigen Arten von Weidenbäumen. Silber-Weide, Mandelweide erkennt meine schlaue App. Doch meine Augen sehen noch andere. Ich kann sie aber nicht benennen. Es ist dieser Uferbereich, der mich an einen Hauch unberührter Natur denken läßt. Ist natürlich nicht so. Aber schön. 

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Rest der alten Dömitzer Eisenbahnbrücke

Die andere Seite, die ich von Hitzacker aus mit der Personenfähre erreiche, ist nüchterner, langweiliger. Kulturland eben, hinter glatt gezogenen Deichen. Ich ‚mache Gummi‘ und statte der Ruine der alten Dömitzer Eisenbahnbrücke einen Kurzbesuch ab. Dieses aufwendige Bauwerk erfüllte zu Zeiten seiner Unversehrtheit nie wirklich den Zweck, eine stabile Eisenbahnverbindung von Berlin nach Bremerhaven zu ermöglichen. Und seit der Zerstörung während eines Luftangriffs im zweiten Weltkrieg blieb sie ein Torso, viele Jahre weithin sichtbares Symbol der deutschen Teilung, abgebrochene Eisenkonstruktion am Elbeufer. Industrie-Denkmal oder von einem genialen Land-Art-Künstler geschaffene monumentale Skulptur?

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Binnendühnen von Klein Schmöhlen

Griese Gegend

Wie kann es nur am frühen Morgen dieses Tages Anfang Mai so heiß sein! Schon gestern gegenüber an dem Brückentorso knallte die Sonne schon heftig auf mich herab. Dazu kommt, dass es viele Wochen nicht mehr geregnet hat. Ich stapfe in tiefem Sand eine Düne hinauf. Die Binnendühnen von Klein Schmöhlen bei Dömitz sind Hinterlassenschaften von Wind und Wetter, zusammengeblasen, abgelegt und aufgetürmt aus den mächtigen Sandablagerungen des Elbe-Urstromtales. Es geht wirklich hoch hinan zu einem weiten Überblick über das breite Tal der Elbe. Trockenrasen und Kiefern, zum Teil zu skurrilen Holzskulpturen verbogen, dominieren die weiten Sandhügel. Von hier an bis weit ostwärts wurde der Sand geweht. Darauf wiederum bildete sich im Laufe der Jahrtausende nach der Eiszeit eine dünne Pflanzendecke als Grundlage für ausgedehnte Wälder und magere Felder. Durch Beweidung und Holznutzung im Mittelalter wichen wiederum die Wälder, die Pflanzendecke brach auf und wieder wehte Sand durch die Landschaft. Felder wurden unbrauchbar, die Menschen in den Dörfern verarmten teilweise und mussten sich als Tagelöhner verdingen. Diese Landschaft bekam mit der Zeit den Namen „Griese Gegend“, abgeleitet von der grauen Leinenkleidung der Einheimischen.   

Szenerie an der Elde bei Dömitz

Dörfliche Industriekultur

Ich folge dem Lauf der Elde so gut es geht, mal weit entfernt, selten in Sichtweite, durch diesen Landstrich. Gleich hinter Dömitz verbirgt sich der Wasserlauf noch kurz hinter üppiger Uferflora und Wasserpflanzen. Doch bald radele ich auf dem Damm eines in einen Kanal gezwungenen Gewässers. Bis der Weg das Gewässer wieder verläßt und mich durch Kiefernwälder führt. In Malliß fällt mir im Vorbeifahren ein Schild auf: „Griese Gegend“ und irgendetwas mit „Industrie-Kultur“ steht drauf und ich meine, auch das Wort „Kaffee“ gesehen zu haben. Neugierig drehe ich um und fahre durch das Tor auf ein Gelände zwischen niedrige langgestreckte Gebäude. Außer zwei Laut gebenden Hunden sehe ich erst einmal niemanden. Dann kommt ein Mann aus einer Art Werkstatt, entsprechend gekleidet, säubert sich die Hände mit einem Putzlappen. Begrüßt mich freundlich, beruhigt die Hunde und fragt nach meinem Begehr. Ich bin neugierig und frage offen nach einem Kaffee. Könne ich kriegen, sagt’s, und da der Ruf nach seiner Frau zunächst kein Ergebnis zeigt, weist er mich auf eine Klingel (‚Bedarfsklingel’) am Gebäudeanfang hin, die ich auch hätte bedienen können. Man gut, dass ich es nicht tat. Der Ton ist eine schrille, laute Industrieklingel, die eher etwas von Alarmruf hat. So etwas wie „Achtung, Vorsicht!“ signalisiert. Zweimal läßt er sie zu Demonstrationszwecken für den Besucher lang andauernd erschallen. Das sei doch nicht nötig, ruft die aus einer Tür tretende Frau, sie sei ja nicht schwerhörig. Die beiden sind ein Team, das merke ich gleich. Und während der Kaffee gebrüht wird, bekomme ich schon einmal einen Überblick von Bernd B. über die Industriegeschichte des Dorfes im Schnelldurchlauf. Er kennt sie aus dem Effeff, schließlich war er lange Jahre Betriebszahnarzt des Spanplattenwerks in den Praxisräumen, die sich im Gebäude direkt hinter mir befanden. 

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In Malliß

In Malliß wurden Kalisalze abgebaut und Braunkohle gewonnen. Beides hatte die Erde rund um das Dorf nach oben gedrückt und sorgte so für Arbeitsplätze in der „Griesen Gegend“. Ton kam hinzu, der in einer Ziegelei mit der Energie der Braunkohle zu Ziegeln verarbeitet werden konnte. Der „Ziegeleikanal“ mit Anbindung an die Elde sorgte für günstige Transportwege in alle Himmelsrichtungen. Hamburger Investoren sicherten sich im 19.Jahrhundert u. a. die Ziegelproduktion. Ein Teil der Hamburger Speicherstadt wurde mit Ziegeln aus Malliß gebaut, u. a. auch, weil sie die „Hamburger Norm“ (= Abmessung) hatten. Zum Geschichtsunterricht bekomme ich einen Kaffee serviert und danach von Carola B. eine kurze Führung durch ein kleines Ausstellungskabinett mit alten Fotos, Gegenständen und Bildern zum Thema. Führte mich mein Weg heute nicht weiter in die bereits gebuchte Unterkunft nach Grabow, ich wäre bestimmt noch geblieben. Denn C. und B. bieten hier auch Zimmer, gut geeignet für Radtouristen, an. Und eine sogenannte “EntdeckerRoute“ zur Industriegeschichte des Ortes startet direkt von hier aus als informationsträchtige Wandertour. 

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Im Schlosspark Ludwigslust

Wie klingt Wasser?

Eigentlich gar nicht. Oder doch. Ein Fluss ertönt normalerweise in seinem Flussbett in keiner Sprache, keinem eigenen Sound. Es sei denn, es gibt Hindernisse, die seine Wasser aufhalten, behindern, verwirbeln oder fallen und stürzen lassen. Oder Wind, der dem Wasser Wellen abtrotzt.

Diese „Kollisionen“ klingen im Zusammenspiel, machen das Wasser hörbar. So ein Spiel mit dem nassen Element finde ich im weitläufigen Park des Schlosses Ludwigslust vor. Ich mache von meiner Kurz-Residenz in Grabow einen Tagesausflug dorthin. Teil des im 18.Jahrhundert gestalteten Landschaftsparks ist der Ludwigsluster Kanal mit den ihm entspringenden Bächen und Teichen. Seinen Reiz erhält der Kanal, weil er fließt wie ein Fluss. Zwischen der Stör-Wasserstraße, den dort abzweigenden Gräben und der Rögnitz, in die er geleitet wird, besteht ein natürliches Gefälle. So bilden sich an verschiedenen Stellen durch künstlich geschaffene große und kleine Fälle und Kaskaden als Wasser-Hindernisse die unterschiedlichsten Quellen für Töne. Da gluckert es, sprudelt und plätschert, rauscht, platscht, singt und brodelt es, gluckst und murmelt, säuselt und wispert, begleitet vom Rauschen des Waldes und Tönen seiner Bewohner. Oder von seiner Stille. 

O-Ton-Mix Wasserläufe Schlosspark Ludwigslust

Ich kann mich nicht satt hören und bin fasziniert von diesem Zusammenspiel der Natur mit den Wasserspielen. Da ist zwar noch dieser sehenswerte riesige Schlosspark mit seinen versteckten architektonischen Attraktionen, den man wahrscheinlich tagelang bewundernd und staunend durchwandern könnte. Aber mein Thema ist das Wasser, dessen Klangfarben ich – das Drumherum vergessend – an vielen großen und kleinen Wasserbühnen zwischen den Bäumen und Gebüschen auf mein Mikrofon banne. Die Partitur dafür schrieben vor mehr als hundert Jahren die Parkgestalter, indem sie als Landschaftsarchitekten das Vorgefundene in einen eigenen Rhythmus unterteilten, Wege und Wasserläufe setzend, ergänzend bepflanzten, Sichtachsen und Lichtungen schufen und Gebäude hinein setzten.

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Musikerdenkmal

Partituren ganz anderer Art schrieb Johannes Matthias Sperger, zeitweilig erster Kontrabassist der Hofkapelle von Ludwigslust, angestellt von Herzog Friedrich Franz dem Ersten. 44 Sinfonien schrieb er und unzählige weitere große und kleine Musikwerke. Heute steht sein Bildnis als Skulptur in voller Lebensgröße mit seinem Instrument etwas abseits der großen Kaskade vor dem Schloss. Wo gibt es ein derartiges Denkmal noch einmal auf der Welt! Warum ich es erwähne? Nun, ich habe einen Teil meines Lebens mit dem Erlernen und Spiel des Kontrabasses verbracht. So komme ich natürlich nicht an dem in Bronze gegossenen Abbild vorbei.

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An der Elde

Unbekannter Fluss

Seit Dömitz lasse ich mir meine Richtung von der Elde weisen. Ehrlich gesagt, bis zur Planung meiner langen Reise hatte ich noch nie von einem Fluss mit diesem Namen gehört. Auch nicht, dass er ein Nebenfluss der Elbe ist. In der Realität wird ihm die Bezeichnung ‚Elde-Müritz-Wasserstraße‘ eher gerecht. Ich fahre über weite Strecken schnurgerade auf Deichen an einem mit Eldewasser gefüllten Kanalbett entlang. Der alte, ursprüngliche Wasserlauf mäandert mal näher, mal weiter weg irgendwo als „Flüsschen“, meist auf tiefer gelegenem Niveau, durch Wiesen, Felder und Weiden nebenher. Der Kanal wurde seit dem 16.Jahrhundert bis in die 1930er Jahre immer weiter ausgebaut und hatte lange Zeit große Bedeutung für eine sich ansiedelnde Industrie, den Warentransport, für Wassermühlen und zum Betreiben von Kraftwerken. Über den Anschluß an die Stör-Wasserstrasse konnte zu diesen Zwecken auch der Schweriner See erreicht werden. Kurz hinter den sich über Kilometer hinziehenden Lewitzer Fischteichen statte ich auch diesem ‚Zusammenfluss’ einen Kurzbesuch ab.

Heute überwiegt die Nutzung der Wasserstraßen durch den gewachsenen Wassertourismus mit Paddelbooten, Kanus, Hausbooten und Motorjachten. Immerhin komme ich auf meinem Weg längs der Elde an einigen Wasserkraftanlagen vorbei, von denen es noch ingesamt neun auf dem Weg bis zur Elbe geben soll. Mich wundert, dass der Kanal sichtbar fließt. Es muss doch ein recht großes Gefälle geben. Die vielen Schleusen, die ich unterwegs sehe, sind ein deutliches Zeichen dafür. 

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In Parchim

Stadtgewässer

Das Wasser der Elde spielt in Parchims Altstadt wieder eine große Rolle. Ich erreiche die Stadt von Grabow aus kommend schon kurz nach dem Mittag. Beziehe mein Quartier und gehe neugierig auf Erkundungsgang. Nicht nur einmal, mehrmals gehe ich die kleinen und größeren Wasserläufe ab, die durch die Altstadt fließen. Verweile da und dort und genieße die neu und so verschieden gestaltete Wasserarchitektur. Das ist den Planern und Ausführenden recht gut gelungen. Die mit den Jahren wohl in Rohren oder hinter wuchernden Pflanzen verschwundenen Gräben und Bäche wurden auf neue Art sichtbar und zugänglich gemacht und in der Anlage mit viel Aufenthaltsqualität versehen. Diese neuen Bereiche kontrastieren angenehm mit der historischen Altstadtbebauung. Eins geht in das andere über. Oder ist das nur das Auge des Städters, das diese in Stein, Beton und Pflasterung gekleideten Wassergerinne angenehm empfindet? Ist die Sichtbarmachung des alten Färbergrabens auf diese Art ein Gewinn? Wird hier wirklich sichtbar gemacht, was einmal war? Gab es hier Färbereien und was und wie arbeiteten sie? Da fehlt mir noch etwas zu meinem Spaziergangsglück: ein sichtbarer Brückenschlag zurück. Vielleicht gelingt der ja bei der Sanierung und Umnutzung des großen Backsteingebäudes der früheren ‚Mecklenburger Elde Mühlen’, in der noch bis 2008 Mehl produziert wurde. Damals schon wurde sie still gelegt, der Maschinenpark ausgeschlachtet und nach Serbien verkauft. Nun wird sie nach langem Leerstand zur „Kulturmühle“ mit Museum und Theater umgebaut. Ein starker sichtbarer historischer Bezug zu den die Altstadt bestimmenden Wasser der Elde wäre da wünschenswert. Sagt der Reisende, der morgen schon wieder weiter fährt.  

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Elde-Müritz-Wasserstraße

Endlich wieder Fischbrötchen

Ich fahre zunächst durch den Parchimer Stadtwald. Kiefern, so weit ich blicke, Baumbestand spargelig dünn, frei von Unterholz, dadurch sehr licht. Danach ändert sich die Landschaft, wird hügelig. Kleine Windparks erheben sich aus Feldern. Dann Wälder, Buchen statt Kiefern, dichtes Unterholz. Und zurück an den Kanal, den Elde-Müritz-Schifffahrtsweg. An der Bobziner Schleuse gibt es ein Gefälle von immerhin sieben Metern. Das sieht ziemlich gewaltig aus. Dann ist Schluss mit lustig. Der Fahrradweg begleitet bis Plau am See die B 191, da beeile ich mich, voran zu kommen. Noch bevor ich meine Pension suche, rattere ich auf einigen dieser für Radfahrer*innen so nervigen alten Pflasterstraßen, die es in den Städten bis hierher so häufig gab, zunächst zum Hafen. Wie schrieb ich im vorletzten Beitrag vom Stader Stadthafen? „Ein Leben ohne Fischbrötchen ist sinnlos!“ Welche Freude ist es, am Hafen von Plau an der Elde einen Imbiß mit Fischverkauf der ‚Müritzfischer‘ vorzufinden. Zwei Tage nach dem ‚Weltfischbrötchentag’! Eine Tafel mit Hinweisen und Bildern zu diversen Variationen dieses Imbiß-Happens zieht mich magisch an. Und so sitze ich in der Mitte dieses Tages mit Hecht auf Brötchen zufrieden am Fluss. Gemeinsam mit einem Lüneburger Radlerpaar, das auf dem Weg an die Ostsee ist. Sie fahren weiter, ich bin fast angekommen. Da wären noch die letzten Kilometer nach Waren an der Müritz. Die will ich morgen auf dem Wasser zurücklegen. Mit dem Touristendampfer. Fahrkarten gibt’s gleich nebenan. Ich überrede den Kontoristen, mir schon heute eine zu verkaufen. Nach dem Bezug meines Pensionszimmers gelüstet es mich nach Kaffee und Kuchen. Anders als in den bisher durchfahrenen Orten ist es in einem Touristen-Hotspot wie diesem kein Problem, bedürfnisgerecht versorgt zu werden. Gleich um die Ecke gibt es ein Café , das mir einen ‚Schlesischen Mohnkuchen‘ in bester Qualität anbietet. Da kann der Hannoveraner mit schlesischem Migrationshintergrund in zweiter Generation nicht nein sagen. Und verpasst fast den Aufstieg zum Plauer Burgturm, der schon um 17:00 Uhr schließt. 

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Burgturm in Plau am See

Die versprochene schöne Aussicht finde ich nicht vor. Dafür eine Rarität. Ein Uhrwerk aus dem 16.Jahrhundert, das aus der Plauer Marienkirche stammen soll. Nach einem Brand vollständig zerfallen und und lange vergessen, wurde die Konstruktion im Burgturm neu zusammengesetzt und zum Laufen gebracht. So tickt das Werk zu den Öffnungszeiten als Anschauungsobjekt, in Gang gehalten durch den Gewichtsantrieb zweier Feldsteine. Als letzter Besucher des Tages kann ich zusehen, wie das Uhrwerk mit einer großen Kurbel neu aufgezogen und danach für heute angehalten wird. Doch vorher darf sie exklusiv für mich zweimal die kleine Glocke schlagen. Danke dafür!

Das Uhrwerk im Plauer Uhrturm
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Am Austritt der Elde aus dem Plauer See

Die Elde wird hier aus dem Plauer See in das Flussbett entlassen, das sie bis zur Elbe führt. An diesem Übergang zwischen See und Fluss sitze ich lange Zeit in der Ruhe und angenehmen Wärme eines sommerlichen Maiabends. In der Marina werden die Motorboote vertäut. Fischer kehren vom See zurück. Enten betteln um Deputat. Schwalben rasen knapp über die Wasseroberfläche. Dicht darunter gleiten Schwärme kleiner Fische durch das klare Wasser. Nur kurz einmal wird die beschauliche Stille von den aufheulenden Motoren einer schnittige Motorjacht durchbrochen, die das Seegewässer durchpflügt. Später, zurück in der Pension, im kleinen Biergarten, kommen die Mücken. Die vielen Seen mit natürlichen Ufern sind ihr Reich. Dort wachsen sie auf, von dort aus können sie ausschwärmen.

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Acht Seen

Mein Fahrrad wird über die Gangway auf die ‚MS Loreley’ verladen. Schnell soll es gehen, ruckizucki. „Meine Tasche, ich brauche meine Tasche.“ – „Geht jetzt nicht. Die Drehbrücke in Malchow muss pünktlich erreicht werden.“ Denn sie wird jeweils nur kurz für die Schiffsdurchfahrten geöffnet. Also noch schnell die Fahrräder der anderen mitfahrenden Tourist*innen von der Crew per Hand ein Stockwerk höher an Deck gehievt. Der Dampfer muss los. Ich sehe entgeistert zu, wie das Schiffspersonal selbst die schweren Ebikes an den Sätteln hoch ziehen. Es soll schnell gehen, da dürfen sie nicht zimperlich sein. Die Arbeit wird zügig erledigt, zack, zack, zwei Huhn, ein Gänse. Da legen wir schon ab. Die Hektik weicht der Bordroutine, ich darf zu meiner Lenkertasche. Über die Bordlautsprecher gibt es den Hinweis, dass die werten Gäste gerne etwas verzehren dürfen. Kaffee, Kuchen, Kaltgetränke. Die Zahl der Mitfahrenden ist heute überschaubar, da muss noch ein wenig zusätzliches Kleingeld in die Kasse der Fahrgastschifffahrt rollen. Ich entspanne mich erst einmal. Den Kaffee ordere ich später. Das Unterdeck ist leer, das Freiluftdeck nicht gefüllt. Die Gruppe der Radfahrer*innen steigt nach der Überquerung des Plauer Sees auch schon gleich wieder aus. Der letzte Stop vor Waren. Ruckzuck sind die Räder wieder entladen. Tschüs und weiter geht die Fahrt ohne weiteren Halt. Von jetzt an zwei Stunden Entspannung auf ruhigen Wassern.

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Fahrt durch den ‚Kranichgraben‘ zwischen Jabel- und Kölpin-See

Die Stimmung in der bunt gemischten Passagiergruppe ist gelöst. Wie soll das auch anders sein bei angenehmem Wetter und ruhiger Fahrt. Aus dem Lautsprecher meldet sich ab und zu ein fachkundiger Kommentator und reicht uns akustisch locker ein paar kundige Informationen zur durchfahrenen Landschaft weiter. Mit uns sind kleine private Motorboote und zwei Kurzstreckentouristendampfer auf dem Wasser unterwegs. Ein Hausboot – so ein führerscheinfreies – vermeidet so gerade eben noch die Kollision mit der ‚MS Loreley‘. So tuckern wir der Reihe nach über den Plauer See, Petersdorfer See, Malchower See, Fleesensee, Kölpinsee, Jabler See, Eldenburger See und die Binnenmüritz. Dazwischen passieren wir mehrere mehr oder weniger enge Kanäle, bis wir nach fast drei Stunden in Waren ankommen. 

Doch eigentlich sind wir stromaufwärts auf dem Wasser der Elde gefahren. Die mündet jenseits der Müritz in den Müritzarm, von dort durchquert sie die heutige Schifffahrtstour in umgekehrter Reihenfolge, um letztlich aus dem Plauer See entlassen zu werden. Dort, wo ich gestern Abend so lange verweilte. Und kann deswegen ordentlich weiter fließen, weil die Seegewässer recht hoch liegen: Der Müritzpegel auf gut 62 Metern, die Mündung in die Elbe geschieht bei fast 15 Metern über N.N. Die durchfahrenen Seen nennt man deshalb auch ‚Obere Seen‘.

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Blick auf Waren/Müritz

Massenware

Waren an der Müritz ist ein Touristenort, wie ich sie gefühlt auch anderswo schon häufig gesehen habe. Die Landstriche rund um die Mecklenburger Seenplatte sind gespickt mit aller Art von Wohlfühl-, Service-, Bewegungs-, Kultur- und Gesundheitsangeboten in Hülle und Fülle. Für jeden Geldbeutel ist etwas dabei. Eine Art All-Inclusive-Landschaft hinter einer herrlichen Naturkulisse. Natürlich bin ich Teil dieser Show und versuche dennoch, mich ein wenig wie der Fisch im Wasser frei darin zu bewegen, so gut es geht. Wo ich gerade wieder beim Fisch angelangt bin. Nach einer Nacht im Hotel mit Blick direkt auf die Gleise der DB fahre ich am nächsten Morgen noch einmal zu den ‚Müritzfischern‘. Diesmal zur großen Filiale am Rande von Waren. Natürlich wegen des obligatorischen Fischbrötchens. In dieser Filiale wird die Rohware veredelt und zum Transport umgeschlagen. Demnächst wird es auch eine Demonstrationsanlage zur kombinierten Produktion von Fisch und Gemüse geben. Klingt interessant und nachhaltig. Klingt aber auch bedenklich. Denn hier wird im kleinen eine Art von Massentierhaltung erprobt, oder? Auf dem Hintergrund einer geplanten Lachsfarm in Malchow, die an Land entstehen soll, klingt es ein wenig danach. Ein kompliziertes Thema, das auf jeden Fall mannigfach Diskussionen provozieren und Gemüter erhitzen wird. Zurück zum Fischbrötchen. Das ist klasse. Dick belegt mit geräuchertem Saibling. Hoffentlich frisch aus einem der vielen schönen Seen.

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Bernhard Weiland mit Easy Livin‘

Und damit ist die Etappe fast zu Ende. Wäre da nicht noch ein wundersames Ereignis. Die Deutsche Bahn fährt mich und Easy Livin‘ von Waren über Berlin nach Hause. Und was ist daran erwähnenswert? So wundersam? Die Züge fahren auf die Minute pünktlich ab und kommen auf die Minute pünktlich an. „Dunnerlittchen, was ‚ne Laastung!“ kommentiert Easy Livin‘. Wer das ist? Nur so viel für jetzt: Mein (fast) treuer Reiseesel. Die wechselhafte Geschichte meines Maskottchens liefere ich demnächst einmal nach. Noch vor der nächsten Reiseetappe, die für September geplant ist. 

P.S. Wo ich gerade pünktliche Züge erwähne: Das 9-Euro-Ticket ist ja zur Zeit in aller Munde. Ich empfehle dazu mein Buch “Alter Mann im Bus“. Wie aktuell es doch immer noch ist!

Von mir verfasst im Mai und Juni 2022. Es folgen Eindrücke in bewegten Bildern von unterwegs. Die neuen Leser*innen heiße ich herzlich willkommen. Es grüßt Euer „Alter Mann am Fluss“.