#6 Winterwanderung an der Elbe

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Die fünfte Etappe meines Reiseprojekts “Alter Mann am Fluss“ findet vom 13. – 20.Januar 2022 in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern statt. Sie führt mich zu Fuß an Dove-Elbe und Elbe zur Boize. Von Hamburg aus gelange ich über HH-Allermöhe, Curslack, Geesthacht und Lauenburg nach Boizenburg. Ich lege dabei 73 km zurück und gehe im norddeutschen Tiefland durch die Vier- und Marschlande, entlang des eiszeitlichen Geestrückens am Elbe-Urstromtal und durch das Unesco-Biosphärenreservat ‚Flusslandschaft Elbe‘. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne Abstecher und Umwege) auf komoot: https://www.komoot.de/tour/487315607?ref=itd 

Alles im Fluss

Meine letzte Etappe hatte ich in Hamburg beendet, also wird es von dort weitergehen. Als Ziel ist bereits Boizenburg ausgewählt. Ich werde zu Fuß gehen und mein Gepäck in einem Wanderanhänger hinter mir her ziehen. Die Strecke teile ich in für mich zu bewältigende Tagesetappen von 12 – 15 km auf. Diese bestimmen somit die Zwischenziele zum Übernachten. Ursprünglich war meine Planung darauf ausgelegt, am Südufer der Elbe entlang zu gehen. Auf die Nordseite wollte ich an der Ilmenau-Mündung mit der Zollenspieker Fähre übersetzen. Das hätte mir gut gepasst. Bei der Detailplanung fällt mir allerdings auf, dass mein Plan wiederum der Fähre nicht passt. Sie verkehrt nämlich im Winter nicht. Also ändere ich meinen Plan und verlege meine Wanderroute gänzlich auf die nördliche Seite. Mit dieser Route kann ich mich anfreunden, weil mir dort die Dove-Elbe, ein Elbe-Nebenarm, den Weg weisen kann. Aber irgendwie erweist sich meine geplante Winterwanderung dann doch beinahe als Schnapsidee. Es ist sehr schwer, zu dieser Jahreszeit in diesem Teil der Welt für meine Tagesetappenziele Unterkünfte zu finden. Nach langem Suchen und weiteren kleinen Routenänderungen gelingt mir das. Nicht nur „Flüsse weisen mir den Weg“, sondern auch verfügbare Unterkünfte. So bleibt alles im Fluss.

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Verkehr über die Elbbrücken

Raus aus Hamburg   

Es ist Winter, es ist kalt. Am frühen Morgen herrscht noch Dunkelheit, als ich an der Station Elbbrücken die S-Bahn verlasse. Wer diese Ecke Hamburgs kennt, weiß, dass sie komplett vom Verkehr beherrscht wird. Die Norderelbe muss hier mit den Elbbrücken überwunden werden. Sechs Bahngleise, links die Freihafenbrücke mit Straße, rechts die in beiden Richtungen vierspurige Billhorner Brückenstraße, die in ihrer Mitte auch noch die Veddeler Brückenstraße flankiert. Da will ich als Fußgänger nur schnell weg. Es nervt, das städtische Dauergeräusch, dieses alle Frequenzen gleichmachende Rauschen. 

Verkehrsdauergeräusch Elbbrücken

Ein wenig abseits finde ich ein Handwerker-Frühstückscafe und mache eine erste Pause. Serviert werden Brötchen, belegt mit Maurermarmelade (Mett), dieses gekrönt mit einem Zwiebelhügel, und selbstgezapftem Kaffee aus der bereitstehenden Pumpkanne. Natürlich bin ich bewehrt mit dem ‚Schnutenpulli‘ (FFP2-Maske) und ausgewiesen als Dreifachgeimpfter. Ich bin „geboostert“ und kann meinen „Passierschein“ auf meinem Smartphone nebst Identitätsnachweis per Personalausweis überall vorzeigen. So geht Reisen im dritten Jahr nach Covid. Und so: nämlich zu Fuß. Wandern. Während der großen Seuche sind mehr Menschen denn je auf diese Idee gekommen, höre ich immer wieder. Doch im Winter hier unter Norddeutschlands grauem Dauerhimmel? Fehlanzeige. Während meiner Wanderwoche im jahreszeitlichen Halbdunkel und in feucht-kalter Witterung werde ich keinen anderen Wandersleuten begegnen. Sie sitzen wohl alle zuhause in den warmen Stuben und träumen von einer Wanderung in besseren Zeiten. Außer den Herrchen und Frauchen auf Entenwerder an der Hundeauslaufwiese. Diese Spezies Mensch mit ihren Vierbeinern treffe ich überall in der Nähe von Wohngebieten. Auch ein paar Spaziergängerinnen. Aber niemanden, der wandert. Hinter Entenwerder geht es wieder einmal über eine massive Flutschutzmaschine, das ‚Sperrwerk Billwerder Bucht‘. Krass, was für den Schutz vor Wasserfluten alles aufgewandt wird. Anschließend gehe ich nur noch über Deiche oder an Deichen entlang. Kilometer für Kilometer.

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Wirtschaftsweg Kaltehofe-Hauptdeich an der Norderelbe

Ausgleichsfläche

Das ‚Industriedenkmal Wasserkunst‘ am Kaltehofe-Hauptdeich hätte ich gern besucht. Es ist aber geschlossen. Pandemie- und jahreszeitlich bedingt?  Das wird auf der Information am Tor nicht kommuniziert. Mit flottem Gang und auf dem Asphalt leicht und locker rollenden Reifen meines Gepäcksulkys erreiche ich den Moorfleeter Hauptdeich. Die Geräuschkulisse der Stadt habe ich immer noch nicht hinter mir gelassen. Vor mir liegt die Autobahn 1, die hier die Norderelbe quert und am gegenüber liegenden Ufer macht immer noch das Hafengebiet unüberhörbar auf sich aufmerksam. 

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Blick auf die Ausgleichfläche im Holzhafen

Und mitten in dieser Gewerbelandschaft am Rande von Moorfleet wird auf ein kleines Stückchen geschützter Natur aufmerksam gemacht. Künstlich am Ende des Holzhafens an die Böschung zur A 1 geklatscht, weist eine Informationstafel stolz auf eine sogenannte „Ausgleichsfläche“ für den Autobahnausbau hin. Mir kommt das vor wie moderner Ablasshandel. Hier stört die Natur nicht weiter, die andernorts zerstört wurde. Brandgans, Krick- und Löffelente und der Schierlings-Wasserfenchel sollen sich unter Dauerbeschallung und Verbrennungsrückstandswolken des ständigen Verkehrsflusses wohlfühlen? In einem nach allen Seiten anbindungslos begrenzten Stück Wasserfläche? Wer’s glaubt, wird selig. Unterwegs begegnen mir mehrfach diese sogenannten „Ausgleichsflächen“. Zurück bleibt immer ein zwiespältiges Gefühl. Ich sehne mich jedenfalls nach einer geräuschärmeren Landschaft. Daraus wird aber so schnell nichts.

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Wasserlandschaft an der Reit

Nass und feucht

In ihrem Urstromtal hat die Elbe eine weite Wasserlandschaft hinterlassen. Aus ihrem abgetrennten Nebenarm, der Dove-Elbe, wächst am Tatenberger Deich ein lang gestreckter See. Lang und breit genug für eine Regattastrecke, auf der nationale und internationale Meisterschaften ausgetragen werden. Bei der Umrundung dieser Flusserweiterung treffe ich auf ein kleines Waldstück an der Gose-Elbe, das Naturschutzgebiet ‚Die Reit‘. Aus der geplanten Durchquerung und geführt von meinem Navigationsgerät wird nichts. Zu tief und glitschig der aufgeweichte Boden des Wanderpfades, zu kompliziert die Durchquerung mit meinem beladenen Wanderanhänger. Nach einem vergeblichen Versuch kehre ich matschbekleckert um. Ich wandere weiter über den asphaltierten Fahrweg des Reitdeichs. Zur linken Seite liegen Feuchtwiesen, das Sommerquartier von Fröschen. Wenn diese Lurche im Frühjahr in Massen aus dem Unterholz der ‚Reit‘ hinüber wechseln, wird die Straße für Wochen gesperrt. Amphibien kennen sich ja nicht so gut aus im Straßenverkehr. Über den anschließenden Vorderdeich erreiche ich eine Bushaltestelle an der Dove Elbe. Hier endet meine Tagesetappe. Der 321er Bus kutschiert mich pünktlich nach Bergedorf, wo ich die Nacht im gebuchten Hotel verbringe.  

Die Autobahn entlang

Bis spät in den Abend war der Fußballplatz, von Flutlicht beleuchtet, noch belebt von trainierenden Kinder-, Jugend- und Herrenmannschaften des SV Curslack-Neuengamme. In meinem benachbarten Pensionszimmer höre ich das Stimmengewirr, bis gegen 22:00 Uhr Feierabend ist und der Platz schließlich im Dunkeln liegt. 

Mein Tag war kurz, aber anstrengend. Wie gestern schon im Hotel in Bergedorf ruhe ich auch heute mit meinen müden, schmerzenden Knochen aus. Gestartet war ich am Morgen an der Haltestelle Allermöher Kirche an der Dove-Elbe, an der gestern nachmittag – wie beschrieben – meine Tagesetappe endete. Der öffentliche Nahverkehr mit dem 321er Bus war so nett, mich wieder dorthin zu transportieren. 

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Am Annenfleet unter der A 25

Die heutige Strecke führt mich an der Autobahn 25 entlang und am Rande des neuen Stadtteils Allermöhe vorbei. Allermöhe ist durchzogen von Fleeten mit vielen Grundstücke direkt am Wasser. Ich begegne dem Hauptentwässerungsgraben Allermöhe, dem Möwenfleet, dem Kiebitzfleet, dem Allermöher Randfleet und schließlich dem Annenfleet. Dort wird die Wegeführung kurios. Das Annenfleet fließt mittels einer Unterführung unter der A 25 hindurch, begleitet von einem schmalen Weg, vom Wasser getrennt durch ein massives Gitter. Gegenverkehr ist bei der Enge des Bauwerks nicht möglich. Die Breite beträgt nur wenig mehr als die Breite meines Wanderanhängers, den ich mit meinem Gepäck beladen hinter mir herziehe. Der Weg fühlt sich wie ein Gehsteig in einer Klamm in den Alpen an. Nur ohne Gebirge und Schlucht. Modern in Beton eben. 

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Wanderweg über die Böschung der A 25

Auf der anderen Seite angekommen, muss ich weitere zwei Kilometer über die grasbewachsene Böschung am Rande der Autobahn gehen. Dieses schwere Geläuf ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Ich bin froh, als ich wieder die Dove-Elbe erreiche und meinen Weg auf den Straßen des Schleusendamms, des Kurfürstendeichs und anschließend des Curslacker Deichs in das nahe gelegene Curslack fortsetzen kann. Es ist Deichland, die Bebauung zieht sich rechts und links der Deiche entlang. Und es ist Gartenland. Gewächshäuser ohne Ende. In ihnen wird für den Hamburger Markt produziert. Gartenbau und vor allem Blumenzucht sind in den Vier- und Marschlanden seit Jahrhunderten wichtige Erwerbsquellen. Jede fünfte Rose, die in Deutschland gehandelt wird, soll von dort kommen. Bis in die fünfziger Jahre hatte Curslack auch einen Bahnanschluss nach Bergedorf in die eine und zur Fährverbindung Zollenspieker an der Elbe in die andere Richtung. Der alte Bahnhof steht noch, Bahn und Gleise der alten Vierländereck Bahn gibt es nicht mehr. Aus dem Bahnhofsgebäude wurde eine Gaststätte mit Biergarten und Pension. In einem der dortigen Zimmer quartiere ich mich ein. Gleich neben dem Platz des SV Curslack-Neuengamme. Nicht weit von der Dove Elbe. 

Fußballspiel auf dem Sportplatz des SV Curslack-Neuengamme (Zusammenschnitt)
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Kulinarische Köstlichkeiten

Speisekarte

Gut, dass mir die angeschlossene Gastwirtschaft etwas Warmes zu essen anbieten kann. Es sind die üblichen Verdächtigen, die mir von der Servicekraft aufgezählt werden. „Frikadelle, Currywurst, Schnitzel – ach so, heute auch Senfeier.“ Ich stelle mir aus den Angeboten ein individuelles Mahl zusammen. Ein Bergedorfer Bier und eine „Fahrkarte“ aus der Spirituosenflasche der Theke runden die lukullischen Köstlichkeiten ab. Viele Kilometer im Rund ist dieses Lokal das einzige, das mir etwas Gutes tun kann. Die coronabedingt gestrichene Speisekarte ist mir daher ziemlich egal. Es wird in diesen Tagen nicht die einzige Gegend sein, die arm an geöffneten Speisewirtschaften ist. Zumal Sonn- und Montag vor der Tür stehen, also die gastronomischen Schließtage. Die Tische um mich herum bleiben unbesetzt. Die Barhocker an der Theke sind ausgebucht. Stammgäste überführen bei flüssiger Kost die Tagesnachrichten lautstark in lebhafte Erfahrungen und Weisheiten des Alltaglebens. Während ich schon im Bett tiefem Schlummer entgegen döse und das Flutlicht des Sportplatzes ausgeschaltet wird, steigt der Stammgästepegel. Die ernsten Themen weichen hörbar heiteren.

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KZ-Gedenkstätte Neuengamme – Blick Richtung ehemaliger Lagerbaracken

Ort des Gedenkens

Ich hatte mir die vorangehenden Tage eine stille, ruhige Landschaft, fernab vom Lärm der Städte und Autobahnen gewünscht. Jetzt ist es still. Unwirklich still. Auch meine Phantasie kann keine Geräuschkulisse an diesen Ort zaubern. Es gelingt mir nicht. Ein leeres, sehr weitläufiges Areal, Rasenflächen, da und dort verschlossene Klinkerbauten. Äußerlich wirkt es kühl, das Areal der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Der klare, kalte Tag mag zu dieser Stimmung beitragen. Zunächst spricht sie auch nicht zu mir. Ich komme weit vor der offiziellen Öffnungszeit der Ausstellungen an und bewege mich mehr intuitiv als zielstrebig über das Gelände. Ich brauche lange, um an Gebäuden, angedeuteten Orten, zerstörten Orten, symbolischen Ausstellungsgegenständen und ihnen zugeordneten Informationstafeln vorbeizugehen. Um langsam eine Ahnung davon zu bekommen, was hier einmal vor sich gegangen sein mag.

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Grundmauern der Zellen des Arrestbunkers

Ein Arrestbunker, die Reste der Mauern wie von Archäologen freigelegt. Hier wurde mit Giftgas getötet. Baracken, sichtbar gemacht durch exakt eingefriedete Schuttrechtecke, Spuren der früher hölzernen Massenunterkünfte. Hier war das pure Elend zusammengepfercht. Die Trutzburg des Klinkerwerks. Dort wurde durch Arbeit getötet. Der Stichkanal, mit Zwangsarbeit ausgehoben, bezahlt mit Menschenleben. Egal, welchen der auf dem KZ noch angesiedelten Produktionsbetriebe man nimmt: das ganze Areal übersät mit Quälerei und Folter im Geiste faschistischer Rasseideologie, germanischer Überlegenheitsverrücktheit in Form menschlicher Verrohung. Stille liegt über dem Gelände. Kaum ein Vogellaut ist hörbar.   

Stille über dem Gelände

Und heute?

Vielleicht soll diese Stille an das Schweigen nach dem Krieg in Deutschland hinweisen. Es sollte weg damals, das Elend der Erinnerung an die Verbrechen der Nazis. Nur wenige wollten diese unbequemen Erinnerungsorte haben. Die Nachnutzung und weitgehende Zerstörung ohne jegliche Hinweise auf die verbrecherische Vergangenheit dieses Ortes bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein legen ein beredtes Zeugnis ab vom Umgang mit diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte. Es dauert lange, bis nach langen Kämpfen insbesondere von Opferverbänden Stück für Stück endlich 2006 fast das gesamte Gelände des ehemaligen KZ zur Gedenkstätte wird.

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Blick von der ehemaligen Klinkerfabrik

Irgendwie klingt diese Verleugnung schon in überlieferten Aussagen von KZ-Überlebenden direkt nach dem Krieg an. Oft wurde ihnen nicht geglaubt, wollte man ihnen nicht glauben. Sie wurden nicht ernst genommen, wurden geschnitten, argwöhnisch, zurückhaltend behandelt. Sie waren körperlich und psychisch schwer geschädigt und hätten die Hilfe der Gesellschaft bitter nötig gehabt. In der Hauptausstellung „Zeitspuren“ sind es ihre wiedergegebenen Zitate, die mich am tiefsten treffen und berühren. Diese Ausstellung wirkt stärker als der Ort in seiner Gesamtheit. Weil er Einzelschicksale der diversen Opfergruppen in persönlichen Büchern namentlich benannter Menschen dokumentarisch darstellt. Eine ganze Ausstellungshalle gefüllt mit Schicksalen, die beispielhaft für tausende stehen. Wie kann es sein, dass es heute noch so viele Menschen gibt, die rechten Apologeten folgen, die die Zeit der Naziherrschaft als „Vogelschiss“ der Geschichte klein reden wollen? Was geht in den Köpfen der sog. ‚Impfgegner‘ vor, die sich Seite an Seite mit neuen Nazis den gelben Judenstern anheften und damit die Opfer von damals verhöhnen? Können die sich im entferntesten vorstellen, wie Opfer einer wirklichen Diktatur behandelt wurden? Der unmenschliche Geist von damals scheint in ihnen auf verstörende Weise weiter zu wirken. Das geht mir durch den Kopf angesichts der Zitate in der Ausstellung „Zeitspuren“ in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

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Die Elbe vor Geesthacht

Natur pur

Die Elbe liegt glatt wie ein Spiegel da. Der hellgraue Himmel mit blassem Sonnenschimmer legt sein Ebenbild auf der Wasseroberfläche ab. Scharen von Kormoranen flattern von Land kommend über den ruhigen Fluss. Lassen sich nieder, steigen wieder auf und so fort, bis sie wohl einen Ort im nassen Rund gefunden haben, der ihnen guten Fischfang verheißt. Dort verweilen sie, tauchen ab, tauchen wieder auf. Ein friedlicher Blick am frühen Morgen vor dem Fenster meines Frühstückstischs in Lauenburg hinunter auf das Kormoranfrühstück.

Das Fließen der Elbe bei Lauenburg

Aus Geesthacht kommend war ich gestern hier angekommen. Geesthacht hatte ich über eine unspektakuläre und schnell zu bewältigende Strecke auf festem Untergrund und bei trockener Witterung von Curslack aus erreicht. Der Start in Geesthacht wiederum findet unter widrigen Wetterumständen statt. Es ist windig und regnerisch.  Auf der Elbe treibt der Wind Wellen gegen den Strom. Mit Schaumkronen zerfurchen sie das strömende Wasser. Ich entschließe mich, die ersten Kilometer bis Tesperhude mit dem 8800er Bus unter den Regenschauern hindurch zu fahren. Vier Kilometer fährt er mich unterhalb des Geestrückens entlang der Elbe, vorbei am Pumpspeicherwerk Geesthacht, dem stillgelegten AKW Krümmel und dem Gelände, auf dem Alfred Nobel erstmals Dynamit entwickelte und produzierte. In zwei Weltkriegen wurde an diesem Ort bis zu seiner teilweisen Zerstörung und späteren Demontage nach 1945 eine bedeutende Rüstungsproduktion ausgebaut. Heute soll nur noch wenig davon zu sehen sein. 

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Naturpfad an der Elbe zwischen Geesthacht und Lauenburg

Mit kurzen Regenschauern und Wind im Rücken beginnt meine sehr elbnahe Wanderung durch das Naturschutzgebiet ‚Hohes Elbufer‘, immer knapp über dem Flusspegel. Auf dem naturbelassenen Pfad bin ich zu dieser Jahreszeit einsam und allein unterwegs. Keine Wanderer, Hundeauslauf-Spaziergängerinnen, niemand. Nur ich, mein Wägelchen, Wind, Wetter, Natur. Ich atme tief durch. Der Kopf ist frei. Es gibt nur noch den Weg, mich und den Rhythmus des Gehens. Begleitet vom Rauschen der windgepeitschten Elbe. Beinahe Idylle pur. Beinahe. Der Weg, oder eher: der Pfad erfordert meine volle Aufmerksamkeit. Geht es da vorne weiter? Doch, da geht es wohl weiter! Oder nicht? Ich glitsche voran. Es geht weiter, drumherum um diesen Baumriesen, der Pfad ist neu getrampelt. Das Rangieren meines Wanderanhängers ist dort gar nicht so einfach. Drunter durch unter diesen Windgefällten, Entwurzelten, gestützt auf ihre noch kräftigen Äste. Wie sieht das vor mir aus? Wie kann da eine Lücke sein im Stamm, der quer über den Pfad gestürzt ist? Gerade mittendurch setzt sich der Weg fort, hindurch durch diesen Riesen? Ach ja, geschnitten von freundlichen Wegbereitern mit ihren Kettensägen. Glatte Schnitte mittendurch. Glatt mittendurch gehe auch ich. Abseits ein gefällter Baum. Wie bleistiftgespitzt. Das waren Biberzähne. Dieser Nager wird auf dieser Seite des Elbufers mit den sich wiederholenden stillen, schilfgesäumten Buchten immer häufiger gesehen. Ruhe und beste Futterbedingungen am Wasser machen dem Schwimmer das Leben einfacher als anderswo. Vor mir verbirgt er sich.  

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Ehemaliger Kolonnenweg

Grenze

Hinter Lauenburg, am nächsten Tag, ich habe auf der Lauenburger Brücke den Elbe-Lübeck-Kanal überquert, gehe ich noch ein Stück Wirtschaftsweg hinter dem Elbdeich entlang. Irgendwo auf dieser Strecke überschreite ich die Bundeslandgrenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und merke es nicht. Nichts weist darauf hin. Und irgendwo betrete ich genauso das „UNESCO-Biosphärenreservat Elbtalaue“. Auf dieser Seite der Elbe ist es zunächst nur ein schmaler Streifen. Vermutlich identisch mit dem „Grünen Band“. Über einen kaum sichtbaren Pfad, nachdem ich den Mühlenbach über eine schmale Brücke quere, gerate ich auf einem befestigten Weg in ein Waldgebiet. Ich laufe über Stein- und Betonplatten. Das kann nur der alte Kolonnenweg sein. Der, auf dem die Grenztruppen der DDR patrouillierten. Die anderen Grenzbefestigungen an der Elbe, rüber zum ‚kapitalistischen Westen‘ in Niedersachsen sind offensichtlich abgebaut, abgerissen, verschwunden, überwachsen von Gesträuch und Bäumen. Einzig dieser befestigte Weg weist noch auf die frühere Funktion hin. Heute gehört der ehemalige Grenzbereich, Zeuge von dramatischen Schicksalen, Flucht und Tod, zu einem Naturschutzprojekt, dem „Grünen Band“. Ein langgezogener Ort, von Vergangenheit und Zukunft zeugend. 

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Blick hinab vom Elbhang Vierwald auf die Elbe

Ranger

Die Elbe scheint manchmal durch das kahle Wintergeäst hindurch. Etwas oberhalb des Flusses steigt der Weg hinan und führt mich wieder hinunter. In der Nähe eines Parkplatzes der parallel laufenden Bundesstraße klappe ich für eine Mittagsrast meinen mobilen Hocker auf. Der Wald lichtet sich hier über ein Wiesengelände hinunter zum Fluß. Ich will gerade von meinem Proviant zehren, da kommen zwei Menschen auf mich zu, Mann und Frau. Erdfarbene Uniform, Hut mit weiter Krempe, Stiefel, Fernglas. So sehen Ranger aus. Ich natürlich wie ein Wanderer. Sie fragen nach woher und wohin. Wir kommen ins Gespräch. Sie sind die Hüter des Reservats, Biosphärenreservatsamt Schaalsee Elbe in Zarrentin. Heimat Boizenburg. Sie schauen nach dem Rechten, führen Buch über den Zustand der Natur, berichten an die EU, richten Schilder wieder auf, weisen zurecht, verhängen Bußgelder – also knapp gesagt, sie kümmern sich um alles. 

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Blick auf die Flusslandschaft bei Boizenburg

Dann erstaunen sie mich. Fragen mich, warum ich denn vorhin, auf dem Wirtschaftsweg an der Elbe, einmal ohne meinen Wanderanhänger hin und her gelaufen sei. Warum ich ihn denn so unbewacht stehen ließ? Ich bin platt. Dann waren sie es, die zweimal in ihrem PKW an mir vorbeifuhren, einmal auf dem Weg und danach sogar auf dem Deich fahrend mich überholten. Ja, sie haben richtig beobachtet. Die Geschichte geht so: Dort, wo die Grenze zwischen den Bundesländern verlaufen muss, steht eine Bank für Spaziergänger*innen. Ich machte dort Rast, um meinen schmerzenden Rücken zu besänftigen, und legte auf die nassen Holzplanken ein dünnes Styroporkissen für meinen Schutz. Als ich weitergegangen war, merkte ich nach gut einem Kilometer, dass ich dieses Kissen dort wohl vergessen hatte. Also verpaßte ich mir eine Strafrunde. Meinen Hänger ließ ich abseits des Fahrwegs zurück. So viel Vertrauen muss sein. Ich eilte, befreit von meiner Zuglast, zurück. Da wartete das Fundstück unschuldig am Platz der Rast und Ruhe auf mich. Das Vergessen sah mir mal wieder ähnlich. „Der kleine Berni hat mal wieder seinen Turnbeutel vergessen“, dieser ‚running gag‘ zieht sich seit meinen Grundschulzeiten durch mein Leben. Die Vergessens- und Verlustliste auf dieser Reise seit der ersten Etappe: ein Fahrradschloss-verschollen, ein Nachtlicht-nachsenden lassen, ein Multi-USB-Stecker-vergessen und neu gekauft, ein Hotelschlüssel-per Bus am selben Tag zurückgebracht – und nun diese Styroporunterlage. Es ist ein Billigartikel, aber bei dieser Witterung für mich sehr nützlich und wertvoll. Wäre er in die Landschaft verweht worden, schädlich und gefährlich. So kommt es zu einer über zwei Kilometer langen Extrarunde und der unwissentlichen ersten Begegnung mit Ranger und Rangerin. Und mit der zweiten Begegnung mit ihnen kann ich ihr Beobachtungsrätsel auflösen. Wir verabschieden uns freundlich – gute Reise – frohes Schaffen. Für den Weg nach Boizenburg geben sie mir noch einen Tipp für einen guten Platz mit Überblick über die Elbelandschaft mit. Danke dafür.

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In Boizenburg

Geschlossen

Es ist Wochenmarkt in Boizenburg. In der Altstadt am Rathaus haben Händler*innen ihre mobilen Stände aufgebaut. Gut für mich, ich kann mich so mit lokalen Leckereien versorgen. Und bekomme einen kleinen Einblick, was von den Kund*innen so gefragt ist. Vom Angebot her mehr Fleisch als Gemüse. Eindeutig. Genauso gefragt ist das Gespräch. Viele Grüppchen stehen zum Plausch beieinander. Frauen in kleinen, Männer in einer großen Kaffeerunde. Der Markt als echter Treffpunkt unter freiem Himmel. Das Wetter läßt es zu. Das „Erste Deutsche Fliesenmuseum“ hat geschlossen. Dumm gelaufen für mich. Deswegen hatte ich doch einen ganzen Tag für dieses Städtchen eingeplant. Stattdessen mache ich einen längeren Spaziergang, vorbei an alten Fachwerkhäusern, dem Ringwall mit seinen Wassergräben. 

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Weidengang-Allee im Winter, blattlos

Hinter dem Stadthafen erstreckt sich eine weite Wiesenfläche. Mittels gebundenen Weiden wurde dort eine gestaltete Weidengang-Allee und eine vom imposanten ‚Weidenschneck‘ – winterlich leider ohne Blätterdach – überwölbte  Naturbühne gestaltet. In ‚Christels Kaffeestübchen‘ lasse ich meinen Ärger über die verpasste Fliesenbesichtigung schnell verrauchen. Es gibt eine richtig gute, nein, eine hervorragende ‚Schwarzwälder Kirschtorte“ und einen kräftigen Kaffee. An diesem Kuchen komme ich nirgends auf dieser Welt vorbei. Was ich doch für ein Glückspilz bin. Ich schlage, wie man sagt, so richtig zu. Und als am Abend mein Verein ‚Hannover 96‘, diese Wundertüte, diese wankelmütige Mannschaft aus dem letzten Tabellendrittel der zweiten Liga, im DFB-Pokal ‚Borussia Mönchengladbach Gladbach‘ mit 3:0 besiegt, schmeckt das Bier aus dem Boizenburger Konsum noch mal so gut. So wird dieser Tag doch noch rund.

Von mir verfasst im Februar 2022. Es folgen einige Eindrücke in bewegten Bildern von unterwegs. Ich heiße die neuen Leser*innen herzlich willkommen und wünsche allen ein gesundes Jahr 2022. Es grüßt herzlich Euer „Alter Mann am Fluss“.