#9 Vom Nonnenfließ zur Oder

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Die achte Etappe findet vom 20. – 28.März 2023 in Brandenburg statt. Sie führt mich, teilweise dem Finowkanal folgend, an die Oder. Von Eberswalde aus gelange ich über Niederfinow, Hohenwutzen und Stolzenhagen nach Schwedt. Ich lege dabei insgesamt 176 km mit dem Fahrrad und 20 km zu Fuß zurück und bin im nordostdeutschen Tiefland im Naturpark Barnim, im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin mit dem Plagefenn und im Niederoderbruch zum Nationalpark Unteres Odertal unterwegs. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne meine Abstecher und Umwege) auf komoot: https://www.komoot.de/tour/746465367?ref=itd (Zur Routenkarte müsst ihr dort etwas nach unten scrollen. Die auf dieser sich öffnenden Seite befindlichen Fotos und Texte stammen nicht von mir!)

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Das mäandernde Nonnenfließ

Das Fließen im Walde

„Dieses leise Plätschern. Oder eher: fließendes Wispern, vorbei gleitendes Wispern. Ich mag es gerne hören, will zuhören. Sei still, Wald. Beruhigt euch Bäume. Laßt den Wind Wind sein und hört auch ihr zu, was sich hier zu euren Wurzeln bewegt, zu euch spricht. Nicht geregelt, nicht eingedämmt. Frei fließend.“ So meine lyrisch-romantische Vorstellung eines Gewässers wie der des Nonnenfließ in der Barnimer Heide bei Eberswalde. 

Die erste Tuchfühlung bekomme ich mit dem Gewässer bei der Neuen Mühle, wo sich der noch junge naturnahe Tieflandbach zu einem kleinen See geweitet hat. An dessen Ende rauscht er, gezwängt in einen engen, abschüssig gemauerten Abfluss, unter dem Forstwirtschaftsweg hindurch auf die andere Seite. Dort, vorbei am alten Mühlengelände, kann er sich dann vorerst wieder frei entfalten. Der Wald hallt wider von fernen Kranichrufen. Im Rund verteilte Spechte hämmern in verschiedenen Rhythmen und unterschiedlichen Tonlagen, abhängig von der Holzbeschaffenheit ihres jeweiligen ‚Instrumentenbaums‘. So hört sich Spechtsche Revierverteidigung an. Das Quäken der Enten wiederum klingt gegen all das mal wie Protest, mal wie ignorant-gelangweiltes Geplapper. Die restliche Vogelschar sorgt für den Klangteppich im Hintergrund. Jedes Wesen nach seiner Art. Und alle, auch die den unkundigen Augen nicht sichtbaren Waldfaunaangehörigen, leben und wachsen von, mit und durch den Bach. Sind Teil eines komplexen Geflechts, das ohne die Ungebundenheit eines schmalen Gewässers wie dem des Nonnenfließ so nicht existieren könnte.

O-Tonmix Im Wald am Nonnenfließ
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Die Spur der Biber

Kreuz und quer

Von Eberswalde hatte ich mich morgens von dem einzigen Bus, der für eine Tageswanderung zu Fuß Sinn macht, nach Tuchen bringen lassen. Der Weg von meiner Unterkunft zur Haltestelle war für mich Fremden etwas kompliziert, führte er doch durch ein Waldstück mit sich ständig verzweigenden Waldwegen. Verwirrungen und Verirrungen auf dem von der VBB-App (Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg) mit 25 Minuten Dauer avisiertem Fußweg geschuldet, erreichte ich den Busstop trotz zusätzlich eingeplantem Zeitpolster gerade noch kurz vor der pünktlichen Abfahrt. 

Von Tuchen aus starte ich meine Wanderung Richtung Norden. Den schmalen Fußpfad, der das Nonnenfließ im tief eingeschnittenen Tal abseits des Wirtschaftsweges begleitet, finde ich hinter der früheren Neuen Mühle. Nicht immer kann er den Windungen des Baches folgen, der sich mal in engen, mal in weiten Bögen seinen Weg auf dem Grund der Talsohle gebahnt hat. Der erste Biberdamm taucht auf. Der Bach weitet sich davor aufgestaut auf kurzer Strecke. Doch durch irgendeine Lücke findet das Wasser wieder seinen Weg hörbar durch das kunstvoll verflochtene Geäst des Stauwerks. Und fließt weiter durch sein Bett in gewohnter Weise, still und ruhig dem nächsten Damm entgegen, von denen mir auf meiner Wanderung wohl ein Dutzend begegnen. Windbruch liegt umgeworfen über Pfad und Wasser. Mächtige Buchen, Eichen oder andere, entwurzelt, ob sie nun im Bach, an seinem Rand oder dem Hang des Tales standen. Auch ein Birkenwäldchen liegt danieder, kreuz und quer, sämtlich mit den typischen Biberfrassspuren. Kurz verliere ich den Pfad, schaue mich um und nehme seine Spur wieder auf. Immer häufiger bin ich gezwungen, über die Stämme und Äste umgelegter Bäume hinweg oder darunter hindurch zu steigen. Idyllische Landschaft ist anstrengend. Und schmerzhaft für mich. Tage vor meiner Abreise hatte ich mir die Rippen gequetscht, unbemerkt zunächst. Erst heute machen sich Schmerzen, je länger der Weg dauert, um so heftiger bemerkbar. Eine Woche nach meiner Rückkunft wird mir meine Hausärztin nach Ansicht eines Röntgenbildes drei gebrochene Rippen bescheinigen. Gut, dass ich das am Nonnenfließ noch nicht wußte. Vielleicht hätte ich meine Reise abgebrochen.

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Steinerne Brücke der historischen Bernauer Heerstraße

Das tief eingeschnittene Tal des Nonnenfließ hat seine eigene Historie. Zum einen natürlich die erdgeschichtliche, die, wie könnte es anders sein, mit der letzten Eiszeit zu tun hat. Das heutige Tal wurde vor ungefähr 15.000 Jahren als Urstromtal von Schmelzwassern geformt. Mit der sogenannten Steinernen Brücke überquerte den späteren Bach vor 800 Jahren die  Bernauer Heerstrasse, die quer durch die damalige Wildnis mit dichtem Wald führte. Sie hatte eine wichtige Bedeutung für militärischen Nachschub, Handel und Nachrichtenübermittlung der damals Herrschenden und Handel treibenden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das auf der anfangs nicht befestigten Straße in häufig tiefem Schlamm möglich gewesen sein soll.

Mich verlassen jedenfalls kurz vor Spechthausen meine Kräfte und ich steige in den Bus, der mich nach Eberswalde zurückbringt. So entgeht mir die Mündung des Nonnenfließ in die Schwärze. Diese und ihre Mündung wiederum in den Finowkanal hatte ich schon am Tag zuvor in Eberswalde in Augenschein genommen. Wichtiger ist jetzt der Gang zur Apotheke zum Erwerb von Schmerzmitteln.

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Im Wald hinter Chorin

Holzspaliere und Pflastersteine

Rundholzstapel, so weit das Auge reicht. Fein säuberlich auf gleiche Länge geschnittene Baumstämme, entastet und am Wegesrand gestapelt ein Spalier bildend. Es riecht frisch-harzig. Anscheinen ist Erntezeit im Wald. Oder hat hier ein Sturm gewütet? Ob gut für den Förster oder nicht, jedenfalls schlecht für den Radfahrer. Die Erntemaschinen mit ihren riesigen Reifen haben nicht nur den Waldboden aufgewühlt. Sie haben auch die Wirtschafts- und Wanderwege beschädigt und mit dem in tiefen Reifenprofilen gesammelten Waldboden bedeckt. Mit der Feuchtigkeit der letzten Tage eine für meine Steuerkünste unangenehme Mischung. So wie auch das danach auf hunderte Meter verteilte lockere Schottergemisch, das mich fluchen läßt. So hatte ich mir den Weg durch den Wald um das Plagefenn nicht vorgestellt. Rechts und links in die Wald- und Moorlandschaft zu schauen ist nicht möglich. In meinem Fokus liegt heute erzwungenermaßen die Wegebeschaffenheit, Blick konzentriert nach unten gerichtet, um gut durchzukommen. So betrachtet, ist es eine Schnapsidee, auf dem Weg von Eberswalde nach Niederfinow diese große Schleife über Chorin und Brodowin zu nehmen.

Chorin bietet als Attraktion nicht nur eine weitläufige Wald-, Seen-, Moor- und Wiesenlandschaft. Berühmt ist es wegen seiner gut erhaltenen, in einigen Teilen sogar noch nutzbaren Klosteranlage der Zisterzienser aus dem 13.Jahrhundert. Da der Eigenbetrieb des Klosters augenblicklich in einer wirtschaftlichen Zwickmühle steckt, trage ich zur Sanierung der Finanzen bei und zahle an der Kasse des Informationszentrums Eintritt. Dieser Obulus ermöglicht mir den Zutritt durch das metallene touristische Drehkreuz auf das Gelände des Baudenkmals der Backsteingotik. Nun ist es so, dass mir Überreste längst vergangener Zeiten zum einen erstaunlich erscheinen. Besonders, wenn sie immer noch aufrecht stehen wie dieses. Zweckgebäuden aus unserer Zeit ist eine derart lange Lebensdauer häufig nicht beschieden, werden sie doch abgerissen, lange bevor das Verfallsdatum ihrer Baumaterialien erreicht ist. Da zum anderen meine Neugier bei Trümmerbesichtigungen jedoch gewöhnlich eine relativ kurze Spannungskurve hat, sitze ich recht schnell wieder auf dem gefederten Sitz meines Fahrrads.

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Im Kloster Chorin

Brodowin ist weithin bekannt als Ökodorf. Ich halte mich nur kurz im Hofladen auf und erhole mich bei Kaffee und Kuchen von der bis dahin anstrengenden Fahrt über lädierte Wege. Etwas Proviant fülle ich auch auf. Über glatten Asphalt geht es dann hoffnungsfroh weiter durch den lang gestreckten Ort, links Viehweiden, rechts Häuser und Landwirtschaftsbetriebe, denen man Öko nicht ansieht. In denen aber Öko stecken muss. Sonst wäre kürzlich König Charles nicht in strömendem Regen hierher gekommen, um bei der Käseherstellung zu helfen. So ein königlicher Käse, mit Krone drauf. Hätte ich bei einer derartigen Witterung weiterfahren müssen, ich wäre mehr als verzweifelt. Der Asphalt endet jäh an der Dorfgrenze. Ein Jahrhunderte altes Pflaster starrt mich böse an. Womit habe ich dieses Schicksal verdient? Vier Kilometer sind es noch bis Liepe. Nach hundert Metern gesellt sich ein vom Laub der letzten Jahre und den abgeworfenen Zweigen der letzten Stürme bedeckter Naturweg dazu, auf den ich sofort ausweiche. Doch immer wieder hört er plötzlich auf und zwingt mich auf die altertümlichen Pflastersteine zurück. Oder wird von einer von den Walderntemaschinen tief aufgewühlten Ausfahrt gequert. Gibt es für Radfahrer so einen Ausdruck wie „Warmduscher“? Er träfe auf mich zu. Ich werde diese Etappe einmal den Veranstalter*innen des Radrennklassikers ‚Paris-Roubaix‘, das auch ‚Hölle des Nordens‘ genannt wird, empfehlen. Hier bei Brodowin stürzt es sich allerdings weicher, wie ich bei meiner zum Glück einzigen Landung feststellen darf. Nur meine lädierten Rippen protestieren kurzzeitig.   

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Altes und neues Schiffshebewerk Niederfinow

Schiffe heben

Man gut, dass an der heutigen Führung in das neue Schiffshebewerk Niederfinow nur drei Leute teilnehmen. Das erspart mir und uns den fußläufigen Aufstieg in luftige Höhen. Kleingruppen dürfen mit dem Aufzug in das zwölfte Stockwerk des riesigen Bauwerks hinauffahren. Ich habe sowieso Glück, war mir doch im Vorfeld per Internetseite eigentlich suggeriert worden, dass noch keine Touristensaison wäre und Führungen daher nicht stattfänden. Finden sie aber. Und weil das Wetter nach einem verregneten Morgen aufklart, gibt es einen wunderbar klaren Blick ins weite Rund. Hier oben, in der vorletzten Ebene, auf gut 40 Metern Höhe. Eine schwindelmachende Höhe, wenn ich den Blick hinunter in den wassergefüllten Trog wende. Lieber schaue ich in die Weite. 

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Blick vom Schiffshebewerk Richtung Osten

Unsere kleine Gruppe besteht aus: einem dummen technischen Laien, das bin ich; einem schlauen norddeutschen Ehepaar, kundig bis allwissend, Spezialität: Schiffshebewerke in aller Welt; einer Leiterin der kleinen Delegation, Studentin der Hochschule für nachhaltige Entwicklung (HNE) im nahen Eberswalde, kundig und geduldig. Muss sie auch sein. Denn die allwissende, ingenieurtechnisch beschlagenen Fraktion der Touristenabordnung versieht die Kommunikation immer wieder mit kurzen spontanen Fachvorträgen, sodass wenig Raum bleibt für vorsichtig-kritische Fragen eines dummen technischen Laien. 

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Schiffshebewerk Niederfinow im 12.Stock

Ansonsten ist es still und ruhig im Werk, in der Steuerzentrale im letzten Stockwerk über uns sitzen zwei Personen. Aber nur zur Kontrolle, nicht zum Arbeiten. Der Öffentliche Dienst streikt bundesweit, so auch das lokale Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt. Da stehen alle Räder still, von denen es hier eine Menge gibt. 112 Stück an der Zahl, mit allem, was dazu gehört: Seile, Gegengewichte, Motoren. Die immense Konstruktion aus Beton und Stahl sorgt dafür, dass Schiffe mit bis zu 2300 Tonnen Gewicht vom unteren zum oberen Vorhafen und umgekehrt 36 Meter hinauf gehoben oder hinab gesenkt werden können. Könnten. Heute nicht. Es ist eben Streiktag. Die gerade ankommenden Schiffe müssen warten.

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Brücke über den Havel-Oder-Kanal

Wasserbau

Die enorme Hubhöhe ist notwendig, um den Geländesprung, zwischen der Platte des hochgelegenen Barnim, auf der der Oder-Havel-Kanal verläuft und dem tiefgelegenen Eberswalder Urstomtal mit der „Mündung“ des parallel verlaufenden Finow-Kanals in die alten Odergewässer, zu überwinden. Schon vor 400 Jahre begannen die ersten Arbeiten, um Berlin und die Havel mit der Oder bis nach Stettin und der Ostsee zu verbinden. Es begann mit der Umwandlung des Finow-Flusses mit zwölf Schleusen zu einem Kanal, der heute die älteste noch im Betrieb befindliche künstliche Wasserstraße Deutschlands ist. Später wurde mit der Trockenlegung des nahen Oderbruchs die Oder über einige Kilometer verlegt, mit allen positiven wie negativen Folgen. Dann folgte der Bau des Oder-Havel-Kanals parallel zur Finow als Teil der Havel-Oder-Wasserstraße mit der aus vier hintereinander liegenden Schleusentreppe bei Niederfinow, die heute als Ruine erhalten ist, am Ende des Kanals. Abgelöst wurde diese vom ersten Schiffshebewerk, das nun nach 90 Jahren ununterbrochenen Betriebs als Industriedenkmal erhalten wird. Das vorerst letzte Bauwerk ist das im vorigen Jahr eröffnete neue Schiffshebewerk. Es repräsentiert damit 400 Jahre ständigen Gewässerbaus über Kriege, Krisen und Staatsformen hinweg, als Anpassung an ständig wachsenden Schiffsverkehr und größer werdende Schiffe, als Anpassung der Natur an die Ökonomie.  

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Historische Modelle im Binnenschifffahrtsmuseum Oderberg

Rund um Oderberg führten diese Maßnahmen vorübergehend zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Zum Ende des 19.Jahrhunderts befand sich am Oderbergsee der größte Holzmarkt Norddeutschlands. 1000 Kahnladungen Holz jährlich – die Flößerei nicht mitgerechnet – wurden angelandet und verschifft, verarbeitet in 11 Sägewerken. So vermittelt es das kleine, etwas eng untergebrachte Binnenschifffahrtsmuseum https://www.bs-museum-oderberg.de/ in Oderberg. Kurz und knapp in kleinen Kabinetten wird in dem umgenutzten Wohnhaus die Geschichte der Umgebung vermittelt, die verknüpft war und ist mit der Umwandlung der natürlichen Gewässer und dem Ausbau der Wasserstraßen. 

Die Insel Neuenhagen, eine Erhebung in der flachen Landschaft, die ich auf dem weiteren Weg anpeile, ist Teil dieser Umwandlungen. Seitdem die Oder oder ‚Stromoder‘, der heute schiffbare Hauptstrom des Flusses, abgetrennt von dem westlichen Arm östlich an Neuenhagen vorbeigeleitet wurde, entstand aus der Halbinsel eine Insel. Über die letzt Schleuse, die Lieper Schleuse, des Finow-Kanals fahre ich durch das Niederoderbruch, erreiche die Wriezener Alte Oder und  überquere die Insel Neuenhagen mit leichten Steigungen in angenehmer Fahrt auf gerade erneuerter Straße. Am Rand der bis zu 90 Meter hohen Erhebung mit weitem Blick in das Oderbruch erreiche ich die Oder in Hohenwutzen.

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Deutschenmarkt in Polen

Deutschenmarkt

Eigentlich wollte ich nur zwei Möhren kaufen. Möhren für Greta, die ich morgen treffen werde. Doch wo kaufen, wenn es in den kleinen Orten meiner Reise anscheinend keine kleinen Läden mit einem entsprechenden Angebot gibt? Den letzte Fleischer in Hohenwutzen lasse ich links liegen, der verkauft sowieso keine Möhren. Und die letzte Gaststätte im Ort auch nicht. Vorsorglich besorge ich mir im angeschlossenen Getränkemarkt ein Bier für den Abend. Man kann ja nie wissen. Richtig gemacht, abends hat die Gaststätte schon früh geschlossen. Also „mache ich rüber“, nach Polen. Mit der Hohenwutzener Brücke überquere ich die Oder. Lenke mein Fahrrad nach kurzer Strecke durch eine mehrspurige Tankstelle, die den Zugang zum Touristenmarkt bildet. Einem riesigen Areal von bunten Verkaufsbuden, Supermärkten, Friseurläden und diversen Gaststätten. Die meisten davon jedoch geschlossen. Es ist nicht viel los hier. Das soll an Wochenenden anders sein. Dann werden Menschen aus Berlin in Reisebussen hierher gekarrt. An der Nord- und Ostsee nannte man das früher Butterfahrt. Hier geht die Fahrt auf den ‚Polenmarkt‘. Warum eigentlich ‚Polenmarkt‘, wenn er doch vorwiegend deutsche Touristen anlockt? So, wie ich ihn erlebe, lockt er mich nicht wirklich. In den wenigen geöffneten, dicht nebeneinander in enge Gäßchen gezwängten Verkaufsstellen liegt mehr oder weniger das gleiche Sortiment aus. Als würden alle gleichermaßen von ein und demselben Großhandel beliefert. Ausgenommen scheinen einige wenige Spezialisten, die quietschbunte chinesische Plastikware oder billiges Autozubehör anbieten. In seiner überwiegend verschlossenen Tristesse ist der auf einem alten Fabrikgelände untergebrachte weitläufige Markt schlicht langweilig. 

Handel

Im Café Nova stelle ich mich an die Theke – „tschiendobri“ – und bestelle ein Stück Mohnkuchen und einen polnischen Kaffee, der korrigiert hier türkischer Kaffee heißt – „tschienkuje“ -. Frisch gestärkt setze ich meine Rundfahrt über das Gelände per Fahrrad – in engen Gassen schiebend – fort. Zwei Möhren zu kaufen erscheint zunächst aussichtslos. Möhren werden nur in mindestens Zwei-Kilo-Gebinden angeboten. Ähnlich sieht es mit für meinen Eigenbedarf eigentlich benötigtem Brot aus. Zwischenzeitlich stelle ich eine Fernverbindungen über mein Smartphone zur Frau im trauten Heim in Hannover her. Auf diese Weise ermögliche ich den direkten Kontakt zu einem ausgesuchten Händler auf dem Markt. Diese persönliche Form des modernen Fernhandels per mobilem Netz führt nach kurzer mobiler Verhandlung zum Erwerb von begehrten Waren des täglichen Bedarfs und damit zur außerplanmäßigen, ordentlichen Beschwerung meines Reisegepäcks. Selber schuld. Ach so, zwei Möhren finde ich dann auch – „tschienkuje“ -, über die schlampig-pampigen Pierogi im Imbiss kurz hinter der Tanke decke ich den Mantel des Schweigens. Gefühlt verdaue ich sie noch heute. Schade auch.

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An der Oder auf deutscher Seite

Den Zaun entlang

Die erste Begegnung auf dem Oderdeich Richtung Norden überrascht uns beide. Ein wohlgenährter Fuchs schaut mich an, ich ihn. Auge in Auge verharren wir einen Augenblick, verwundert, uns überhaupt auf 10 Meter nahe gekommen zu sein. Während ich nach meinem Smartphone fingere, trollt er sich ruhig und ohne Eile den Deich hinab und verschwindet im nahe gelegenen Schilf. So versäumen wir es, uns einander vorzustellen. Und ich bekomme kein Foto von diesem Prachtexemplar. Seit ich die Hohensaatener Schleusen passiert habe, fahre ich auf einem schmalen Stück Land zwischen der Oder und dem Hohensaaten-Friedrichsthaler-Kanal. Der Kanal scheint zur Oderseite abgeschottet. Lückenlos verläuft auf dieser Seite ein hoher Zaun. Zwei Rehe tauchen vor mir auf, flüchten Richtung Kanal, wittern kurzzeitig – einen prächtigen Fasan in ihrer Mitte – und laufen weiter den Zaun entlang, entschwinden im Dickicht unter hohen, weit ausladenden Kiefern. Viel Lebensraum bleibt ihnen hier nicht. Der Zaun ist der sogenannte erste, der vordere ASP-Zaun, Schutz gegen die mögliche Einschleppung der Afrikanischen Schweinepest (ASP) durch Wildschweine. Eine zweite Zaunreihe ist irgendwo einige Kilometer jenseits des Kanals weiter westlich eingerichtet. Insgesamt sind es an Oder und Neiße, der Grenze zu Polen, an die 1400 Kilometer. Für den Nationalpark Unteres Odertal, den ich jetzt erreiche, ein unangenehmer Eingriff, beeinträchtigt der Zaun natürlich auch viele hier geschützt lebenden Tiere, die per Gesetz eigentlich keinen Beeinträchtigungen ihrer Mobilität unterliegen dürfen.

Bis kurz vor Stolzenhagen bleibt das Nationalparkgebiet ein schmales Handtuch, bis dort, wo der Kanal einen Bogen nach Westen macht und sich das Gebiet des Lunow-Stolper-Polders weitet. Mit Stolzenhagen habe ich mein letztes Tagesziel erreicht.

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Erfahrenes Grautier

Greta

Wir schauen einander an. Erst aus sicherer Entfernung. Dann komme ich näher. Wie habe ich mich zu verhalten? Die Begegnung verunsichert mich. Doch ich wollte sie. Sie schaut mich an. Nicht direkt, eher so von der Seite. Hält den Kopf stur geradeaus, an mir vorbei. Unsicher? Eigentlich kennt sie diese Begegnungen besser als ich. Trifft sie doch häufig Menschen wie mich alten Esel. Greta heißt sie. Professionelle Packeselin, 20 Jahre alt, ca. 300 kg schwer. S., Chefin von gut zwanzig Grautieren auf ihrem Hof der Packeseltouren Brandenburg, gibt mir Tipps, wie ich mich Greta auf Eselsart vorstellen kann. Ich scheine Greta aber egal zu sein. Na, das kann ja noch was werden. Wir bepacken für die geplante Tageswanderung zwei Grautiere mit Decke, Packsattel und Transportkörben. Greta wird also meinen Rucksack und anderen Kleinkram tragen.  Das gefällt mir. Dann kommt die erste Hürde. Greta muss sich und das Gepäck mit meiner Hilfe durch die schmale Hoftür bugsieren. Diese erste gemeinsame Aktion gelingt uns tatsächlich unfallfrei. 

Eselstrott

S. ist mit einer jungen Eselin im ersten Lehrjahr unterwegs, die sich ein einiges von der erfahrenen Greta abgucken soll. So trotten wir los, Greta und ich immer schön nebeneinander, die Leine vom Halfter locker in meinen beiden Händen. Es geht es durch die Polder eines Teils des Nationalparks Unteres Odertal zum Oderdeich. Die Polder werden durch Rückzüchtungen wie Heckrindern (Urform: Auerochse) und Koniks (Urform: urtümliches Pferd) beweidet, die in der Lage sein sollen, einer urtümlichen Landschaft näher zu kommen. So will es der Nationalpark. Ein Versuch, der noch läuft. So wie mein Versuch, Greta zu zeigen, wo es lang geht. Am Anfang des Weges ist das eher anders herum. Wir lernen noch. Ich mehr als die Eselin. Wie ich ihr zeigen kann, wie ich wo lang gehen will. Wann ich nicht möchte, dass sie sich dem frischen Gras widmet. Aber auch, wie ich merke, dass sie etwas bemerkt hat und nur anhält, um zu beobachten, ob ein Rabe, ein Mensch in der Ferne oder ein Frachtschiff auf der Oder etwas Gefährliches sein könnten. Die Geschwindigkeit, mit der sie ansonsten ausschreitet, liegt mir gut. Es ist ein angenehmes Wohlfühltempo. 

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Fertig bepackt

Den von S. vorgeschlagenen Rastplatz können wir heute nicht erreichen. Die Oder führt Hochwasser, das mittlerweile bis zum Deichfuss reicht und den Rastplatz am Fluss in Beschlag nimmt. So halten wir gleich beim Deich an. Hinter einem schnell gesteckten mobilen Zaun genießen beide Eselinnen frisches Frühjahrsgras, und S. und ich greifen zu unserem Proviant. Im letzten Jahr war auch dieser Teil der Oder vom Fischsterben betroffen. Und in diesem Jahr? Die festgestellten Ursachen sind nicht verschwunden. Im Gegenteil. Der Salzgehalt der Oder war in den letzten Wochen höher als bei der vorjährigen Katastrophe. Die Goldalge hat sich mittlerweile weiter ausgebreitet und ist in den parallel verlaufenden Kanal und die Alte Oder eingewandert. Das läßt nichts Gutes erahnen. Noch ist März, noch ist es kühl.

Der Rückweg an andere Stelle durch die Polder ist übersät von mit Wasser gefüllten Pfützen, die von Greta entweder umgangen oder souverän durchschritten werden. Am Ende hat sich die junge Eselin dies abgeschaut und tut es Greta immer häufiger nach. Sie hat gelernt. Die unzähligen Höckerschwäne auf einer der Weiden ignoriert sie. Selbst den Weg über die Kanalbrücke meistert sie jetzt ohne zu zögern. Unfallfrei durchschreiten wir wieder die schmale Hoftür. Jetzt darf ich meine in Polen erworbenen Möhren hervorholen. Vorher erfahre ich, dass dieses Gemüse wegen des hohen Zuckergehalts nicht so gesund für Esel ist. Doch als Leckerli am Ende der Tour wird mein Mitbringsel genehmigt. So verabschiede ich mich von den duldsamen Grautieren. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.

O-Tonmix Berlin Hauptbahnhof
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Fahrradabteil im ICE

Deutsche Bahn

Meine Rückfahrt wird gewerkschaftlich boykottiert. Der komplette Verkehr auf den Gleisen der Deutschen Bahn kommt durch einen Streik zum Erliegen. An dem Tag, an dem ich gebucht habe, samt Platzreservierung und Fahrrad. Vorsichtshalber hatte ich meinen Aufenthalt in der Pension Terezas im Gut Stolzenhagen, gleich als ich vom Streik erfuhr, um einen Tag verlängern können.

Ich starte also einen Tag später als geplant nach Schwedt. Um an dem Tag möglichst viele Optionen für die Bahnfahrt zu haben, starte ich ganz früh in der Dunkelheit und den frostigen Temperaturen der zu Ende gehenden Nacht. Der Weg auf dem Deich lässt mich, dick eingepackt wie ich bin, schnell dahin gleiten. Der Mond spiegelt sich silbrig in den weiten Überflutungsflächen der Oder vor dem Deich und im Raureif des Grases am Rande des Fahrwegs. Mein starker Scheinwerfer erhellt den Radweg viele Meter vor mir. Ich muss mich stark darauf konzentrieren, denn immer wieder werden Rehe aufgeschreckt und kreuzen, plötzlich aus der Dunkelheit auftauchend, meinen Weg. Im ersten Morgenlicht erreiche ich den Bahnhof von Schwedt. Oder besser den zugigen Haltepunkt. Einen Bahnhof gibt es hier nicht. 

Ich bin zu früh dran und friere, bis die Regionalbahn in die Endhaltestelle einfährt. Die weitere Bahnfahrt verläuft unerwartet glatt nach dem Streik des vorigen Tages. Ich hatte eher mit mehr Durcheinander und überfüllteren Zügen gerechnet. So hatte ich es früher bereits in ähnlichen Situationen erlebt. Nach der pünktlichen Einfahrt in Berlin und der pünktlichen Abfahrt von dort erreiche ich Hannover sogar früher als der Fahrplan vorsieht. Doch, liebe DB, eines bleibt ein ständiges Ärgernis. Deine Fahrradabteile im ICE sind unter aller Sau. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Wer sich diese Anordnung zum Aufhängen ausgedacht hat, sollte einen Negativpreis für Design erhalten. Dort können höchstens Regenschirme gefahrlos und beschädigungsfrei untergebracht werden. So eine Abstellanlage ist eines ICE nicht würdig. Sie spricht absolut gegen die Nutzung des ICE durch Fahrradfahrer*innen. Mich jedenfalls schreckt sie ab. Wo es irgend geht, werde ich in Zukunft auf einen IC mit komfortableren Fahrradabteilen ausweichen. Wenn es geht. Denn dein Fahrplan weist die Möglichkeit eines Fahrräder transportierenden IC auf umstiegsfreier Strecke z. B. von Berlin nach Hannover im Schnitt nur alle zwei Stunden aus. Wie so vieles könnte auch das besser werden. Noch bin ich guter Hoffnung. 

Von mir verfasst im April 2023. Es folgen Eindrücke in bewegten Bildern von unterwegs. Es grüßt Euer „Alter Mann am Fluss“.