#10 Durch das Oderbruch

Die neunte Etappe findet vom 7. – 17.Mai 2023 in Brandenburg statt. Sie führt mich, teilweise der Oder folgend, durch das Oderbruch. Von Frankfurt/Oder aus gelange ich über Lebus, Kienitz, Wriezen, Neulietzegöricke noch einmal nach Stolzenhagen und Schwedt. Ich lege dabei insgesamt 246 km mit dem Fahrrad zurück und bin im nordostdeutschen Tiefland durch das Oderbruch Richtung Nationalpark Unteres Odertal unterwegs. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne meine Abstecher, Änderungen und Umwege) auf komoot:  (Zur Routenkarte müsst ihr dort etwas nach unten scrollen. Die auf dieser sich öffnenden Seite befindlichen Fotos und Texte stammen nicht von mir!)

010_2
Bahnfahrt

Deutsche Bahn – wieder einmal

Es ist 6 Uhr am Morgen. Für diese frühe Zeit bin ich nicht gemacht. Doch mein Reiseplan will, dass ich genau jetzt aufstehe. Als erstes schaue ich auf meiner ‚Navigator‘-App der Deutschen Bahn nach, ob der Fahrplan eingehalten wird. Wird er nicht. Der gebuchte Zug mit den gebuchten Sitzplätzen und reservierten Fahrradplätzen für mich und meine Frau wird in Rot angezeigt mit: Fällt aus. Sofort hellwach suche ich die Servicenummer der Deutschen Bahn und hangele mich durch das akustische Menü mit den Ansagen der immer wachen und entspannten weiblichen Automatenstimme, die mir vorgibt „wenn dies, dann drücken sie das“ und so weiter und so fort. Nach erstaunlich kurzer Wartezeit meldet sich ein Mensch. Mein Anliegen, mir bitte eine meinen Vorgaben entsprechende alternative Reisemöglichkeit zu nennen, muss ich mehrfach erklären. Irgendwann klappt die Verständigung. Für die neue Verbindung brauche ich neu reservierte Fahrradplätze. Dafür werde ich zum nächsten Menschen verbunden. Die Umbuchung ist tatsächlich möglich. Das dauert allerdings etwas. Morgens in aller Frühe, kurz nach dem Aufstehen. Nach einer Dreiviertelstunde ist alles erledigt. Allerdings: die neue Verbindung startet schon eine Stunde früher als die geplante. Also zack-zack, zwei Huhn, ein Gänse. Es wird etwas hektisch. Doch wir erreichen den Zug.

010_3
Wasserbauarbeiten
Tonmix Wasserbauarbeiten

Die Oder

Unser erstes Quartier auf dieser Etappe liegt direkt am Flussufer in Frankfurt/Oder, gegenüber von Slubice. Ich bin erstaunt, wie stark die Strömung hier ist. Ich hatte einen träge dahin fließenden Strom erwartet. Vor unserem Quartier bis hin zur Brücke, die beide Städte miteinander verbindet, wird gebohrt, gebaggert, abgebrochen und eingeebnet. Auf der gesamten Strecke sind bereits Spundwände gesetzt. Den ganzen Tag über wird unüberhörbar an der „Verbesserung des Hochwasserschutzes … auf ein HW 200“ gearbeitet. Gegenüber auf der polnischen Seite fahren Arbeitsschiffe hin und her, um Material für den Buhnenbau zu transportieren. Während der ganzen Etappe, die uns immer wieder ein Stück die Oder entlangführt, begegnet uns kein einziges anderes Schiff als eines dieser kurzen Schubboote mit ihren Lastenkähnen. Sie transportieren Berge von Steinmaterial. An mehreren Stellen gleichzeitig werden damit auf ihrer Uferseite die Buhnenbauarbeiten in den Strom hinein vorangetrieben.

010_4
Arbeitsschiff auf der Oder

Seit dem großen Fischsterben im vorigen Jahr haben sich die Auseinandersetzungen zwischen denen, die den Fluss für den Gütertransport und gegen weitere Hochwasser herrichten, und denen, die den Fluss Fluss sein lassen wollen, verstärkt. Polnische Umweltschützer sind unterwegs und werben für ihre Idee, den Fluss zu einer juristischen Person erklären zu lassen. Um so die Möglichkeit zu bekommen, die natürlichen „Interessen“ des Flusses anwaltlich vertreten zu können. Die Oder – ein Grenzfluss, der vereint, aber auch spaltet, Auseinandersetzungen verursacht und Gegenstand medialer Schlagzeilen, wissenschaftlicher Untersuchungen, politischer Dispute, wirtschaftlicher Rechnungen und Gegenrechnungen ist. Wäre die Oder eine menschliche Person, sie käme nicht zur Ruhe bei dem ganzen Gezerre. Und das schon seit einigen Jahrhunderten.

010_5
Rast am Oderdeich

Dokumentation I.

Von Frankfurt/Oder nach Lebus ist es nur ein Katzensprung. Eine Unterkunft hatte ich für uns in der ‚Pension Kirschgarten‘ gefunden. Klingt idyllisch. Ist es auch. Wir finden ein gemütlich eingerichtetes Zimmer vor in einem Haus, das auf seiner Rückseite einen großen wilden Garten verbirgt. Es sind noch andere Gäste dort, bei unserer Ankunft in intensive Gespräche versunken. Abends sitzen wir auf der Terrasse zusammen mit einer Frau, die sich als Anne Hahn vorstellt. Sie war erst kürzlich in Hannover, erwähnt sie, als sie erfährt, dass wir dort wohnen. Als Fan des 1.FC Magdeburg sah sie dort, wie sich ihr Verein bei unserem Verein Hannover 96 mit einem Sieg durchsetzte. Was uns als Heimfans natürlich überhaupt nicht schmeckte. Damit gerät unser Gespräch, wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, mitten hinein in einen Teil ihres beruflichen Metiers. Sie hat als Schriftstellerin und Journalistin in Medienartikeln und Büchern über die Fußball-Fankultur und die Punkszene der DDR, die sie hautnah miterlebte, ausführlich publiziert. Und, neben anderen, ein Buch geschrieben über ihren abenteuerlichen Fluchtversuch aus der DDR, der 1989 während eine Reise durch die Sowjetunion an der Grenze nach Aserbeidschan scheiterte und noch kurz vor der Wende im Knast endete. Dass wir sie unbekannterweise als Zufallsbekanntschaft treffen? Sie kennt Lebus und die Pension aus jungen Jahren als Sommerfrische und Ferienort und kehrt immer mal wieder zurück. Wir sind das erste Mal in unserem Leben hier. Oberhalb des Odertals, wo die wilden Kräuter blühen. Wo die alte Bäckerei handgemachte Brotlaibe bester Qualität anbietet, solange der alte Bäcker noch seinem Handwerk nachgehen kann. Und an der Oder ein unscheinbarer Gasthof steht, der in seinem Inneren eine gute Küche mit freundlichem Service bietet. Übrigens: Magdeburg und Hannover treffen demnächst wieder in der 2.Bundesliga auf einander. Vielleicht sehen wir uns da ja mal wieder.

010_6
Blick in ein Wohngebiet in Letschin

Dokumentation II.

Hinter Lebus verlassen wir das erste Mal die Oder und beginnen unsere mäandernde Fahrt durch das Oderbruch. Unsere erste Station ist ein kleines Museum in Golzow, gewidmet einem besonderen Filmprojekt. Vor vielen Jahren hatte ich einen Teil der filmischen Dokumentation „Die Kinder von Golzow“ (Winfried und Barbara Junge) gesehen. Ein erstaunliches und mutiges Vorhaben, Menschen, vom Schulanfang beginnend, über viele Jahre mit der Kamera begleiten zu wollen. Punks und Fußball-Hooligans kommen darin nicht vor. 1961 geht es los mit der Einschulung einer Gruppe von Kindern, deren individueller Lebensweg in zeitlichen Abständen und einzelnen Porträts immer wieder festgehalten wird. Bis zum letzten Drehtag im Oktober 2005 entsteht anhand der Einzelschicksale ein Zeitdokument ganz besonderer Art. Der Alltag in der DDR, die Wirren der Wende und die schwierige Situation danach, sich in einer neuen gesellschaftlichen Situation zurechtfinden zu müssen, wird lebendig und nachvollziehbar dargestellt. Das Museum präsentiert in einer umfassenden Ausstellung einen Überblick über die Entstehung und den Verlauf dieser Langzeitbeobachtung aus dem Oderbruch. Bietet im kleinen Kino Filme an und zeigt die damals verwendete, im Vergleich zu heute, massiv anmutende analoge Technik von der Aufnahme bis zum Schnitt. Welch ein im wahren Sinne des Wortes schwergewichtiger maschineller Aufwand, mit denen sensibel spontane Alltagsszenen in Kindergarten, Schule, Familie und Betrieben belichtet und anschließend geschnitten wurden. Eine lohnenswerte Präsentation.

010_7
Quartier im ehemaligen Bienenwagen
Kauzige Kommunikation

Von Vögeln und Panzern

In Kienitz, direkt an der Oder gelegen, verstehe ich die Sprache der Vögel nicht. In unserem Sommerquartier in der Nordheide ist Amselland. Dann zwitschern da noch Meisen, Buchfinken, Grünfinken, lärmen Raben, Gänse, Enten und ‚unsere‘ Teichhühner. Doch in Kienitz zwitschern die Vögel anders. Im Schilf vor dem Deich scheinen sogar Vögel zu wohnen, die die Sprache der Frösche sprechen. Klingt in meinen Ohren jedenfalls so. In der Nacht ruft mich der Kauz. Ich trete aus unserer Unterkunft, einem aus- und umgebauten Bienenwagen, hinaus, lausche, folge seiner immer gleichen Strophe und versuche, ihm zu antworten. Leider kommt mein Pfeifen nur sehr schwach aus meinen gespitzten Lippen. Der Kauz hört es oder auch nicht. Es scheint ihn jedenfalls nicht zu stören. Ausdauernd schickt er weiter sein Rufen in das nahe Wäldchen. Morgens ist der Vogel aus der Familie der Eulen still. Vielleicht schläft er ja noch, während wir ein frühlingsbunt dekoriertes Frühstück mit selbstgemachten Aufstrichen, Marmeladen und Produkten aus der näheren Umgebung bewundern. Alles Bio, alles frisch und jedes Kraut, jede Blüte, jeder Käse, jeder Schüsselinhalt namentlich persönlich vorgestellt, bevor wir genießen dürfen. Einiges treffen wir im Kräutergärtlein wieder. Ökologie in der Praxis nicht nur am rustikalen Essenstisch im Freien des Naturerlebnishof Uferloos. Da heißt es auch ein wenig mitmachen bei den täglichen Verrichtungen. Zum Beispiel im Klo mit dem Herzchen-Guckloch. Da wird nicht gespült. Da wird getrennt in Fest und Flüssig. Und nach erfolgreicher Verrichtung hinten Mulch draufgeschaufelt. Das Feste bleibt darunter liegen. Das flüssige geht weiter Richtung kleiner Pflanzenkläranlage. Praktische Übungen in Ökologie. Nicht nur hier. Unterwegs im Oderbruch stoßen wir immer wieder auf die beiden Schlagworte ‚ökologisch‘ und biologisch‘. Da wächst etwas in der Kulturlandschaft. Häufig verbunden mit speziellem Engagement. Im Uferloos gegen die Salzeinleitungen in die Oder. Und für ein Schulprojekt im westafrikanischen Gambia.

010_8
Denkmal in Kienitz

Mitten im Ort, an der ‚Straße der Befreiung’, steht ein Panzer, ein sowjetischer T34 als Denkmal auf einem Sockel. Flankiert wird er von einer Plakatwand mit einem Friedensappell. In einem Fenster eines Hauses gegenüber hängt eine ukrainische Flagge. Darauf mit der Hand geschrieben „Putin. Mörder.“ Ein politisches Ensemble der Gegenwart. Heute bedrohen russische Panzer die Ukraine. 1945 tobte in Kienitz wie im gesamten Oderbruch eine verlustreiche Schlacht, die letztendlich zur Einnahme von Berlin durch sowjetische Truppen, zum Ende des II. Weltkriegs und zum Ende der Naziherrschaft in Deutschland führte. Viele Orte des Oderbruch waren danach wie Kienitz auch weitgehend zerstört. 

010_9
Ziegenweide

Friedlich trinken wir Kaffee in der Kienitzer Radfahrerkirche. Stärken uns mit kantinenähnlicher Hausmannskost im Gasthaus am Hafen, per Bestellung und Selbstbedienung über das Kioskfensterchen. Und suchen den örtlichen Dorfladen auf, um unser Proviant aufzufüllen. Allerdings entpuppt sich dieser als origineller Gemischtwarenladen für die vorbeiradelnden Tourist*innen. Zum nächsten Supermarkt wären es um die neun Kilometer mit viel flachem Land dazwischen. Wer im Oderbruch lebt, hat weite Wege zu machen. Für uns Touristen gibt es noch ein lockendes Ziel, dem wir nicht widerstehen können. Ein in der Nähe gelegener Ziegenhof kann uns leckeren Käse anbieten. Den mögen wir. Und wo wir schon mal da sind:“Das schöne Paar Wollsocken ziehen Sie bitte mit ab.“

010_10
Wasserregulierung an der Alten Oder

Das Oderbruch I.

Ich hatte mir das so vorgestellt: Wie einst die alte Oder und ihre Gewässer mäandert unser Weg durch das Oderbruch. Vielleicht bekomme ich dann ein Bild von dieser Landschaft, das dieses sich meinen Augen bietende mit dem meiner Phantasie verbindet? Ich muss schon kräftig meine Vorstellungskraft bemühen, um in dieser flachen, weithin übersichtlichen Kulturlandschaft das wilde alte Oderbruch zu entdecken. Unsere Route durch den „Platten Arsch“, wie es im Volksmund auch genannt wird, windet sich wie die alten Wasserläufe hin und her. Weite Felder und Viehweiden, hin und wieder verstreute Gehöfte, kleine Dörfer. Regelmäßig der weitreichende Blick zum Horizont. Dann und wann fahren wir vorbei an Reihen von geschorenen Kopfweiden, da und dort auch Erlen, Ulmen, Weißdorn und Schlehen in schmalen Knicks und Hainen. Reste der früheren dichten Auwälder mit einer vormals reichen Tierwelt. Unsere Wege sind zumeist gut zu befahrender Asphalt, nur ab und zu einmal ein staubiger Wirtschaftsweg, unbeschattet zumeist, beschienen von einer warmen Frühjahrssonnen. Ab und zu, beim Überschreiten von Gewässern, werden einige der regulierenden, für das Oderbruch lebensnotwendigen Wasserbauten sichtbar. Die gesamte Landschaft soll überzogen sein von einem ganzen System miteinander korrespondierender Wasserein- und -durchleiter, Hochwasser- und Dauerschöpfwerke, Heber, Gräben, Fließen, Deichen und Kanälen. Ein Wassermanagement auf immer und ewig, um die heutige Kulturlandschaft für ihre Bewohner*innen, die von den guten ertragreichen Böden profitieren, zu erhalten.

010_11
Die Alte Oder

Das Oderbruch II.

Das Oderbruch war einmal eine weite, sumpfige Region, in großem Bogen durchflossen von der Oder. Wo heute wieder die Güstebieser Fähre den Fluss kreuzt, knickte sie westlich in Richtung Wriezen ab und floss nicht wie heute geradeaus nach Hohenwutzen. Geprägt wurde diese Landschaft von zahlreichen Flussarmen, Seen und Auen, ausgedehnten Feuchtwiesen, Schilfflächen und Auwäldern, Sümpfen und Mooren. Regelmäßig, mindestens zweimal im Jahr, überschwemmten die üblichen Oderhochwasser den tiefer gelegenen Landstrich. So gesehen eine unwirtliche Landschaft, die den Menschen außerhalb der Fischerei nicht viel mehr bieten konnte. 

Auf einigen etwas höher gelegenen Sandhügeln gab es wenige Siedlungen. Wie das noch heute vorhandenen Altreetz, eines der ältesten Dörfer. Mit dieser Wildnis war im Jahr 1746 dann Schluss. Auf  Veranlassung des damaligen Königs, Friedrichs des II. begann ein Mammutprojekt. Die Oder wurde „umgeleitet“, so der Plan, um das Oderbruch zu entwässern. Dafür wurden Deiche, Kanäle und Entwässerungsgräben gebaut. Abgeriegelt vom großen Strom wurde das Gebiet trockengelegt und für die Landwirtschaft nutzbar gemacht. Die wichtigste Maßnahme dafür war die Umleitung der Oder durch ihre Begradigung in Form eines kanalartigen Baus über knapp 20 Kilometer. Ein Wirtschaftsförderungsprojekt würde man das heute nennen. Es rief heftige Diskussionen und Widerstände bei den von und mit der alten Oder lebenden Menschen hervor. Zumal für die entstehende Landwirtschaft massenhaft Menschen aus anderen Teilen des Königreiches und aus der Nachbarschaft drumherum angesiedelt wurden. Wie die Proteste wohl heute aussehen würden? Seit der Trockenlegung wurde aus dem Oderbruch eine fruchtbare Landwirtschaftsregion. Und die so entstandene Kulturlandschaft mit ihren Dörfern und Wasserbauten ist seit kurzem offiziell als „Europäisches Kulturerbe“ anerkannt. Eine Landschaft, die, wäre sie bis heute in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben, vielleicht ein Nationalpark oder UNESCO-Biosphärenreservat hätte sein können. Natürlich auch dann wie heute geschützt mit einem doppelten ASP-Zaunsystem zum Fernhalten der Afrikanischen Schweinepest.

010_12
Wasserabflussmodell im Oderbruchmuseum Altranft

Das Oderbruch III.

Ab Wriezen verwerfen wir die geplante Route zugunsten eines Besuchs im Oderbruchmuseum in Altranft. In den Schauräumen wird noch einmal deutlich, welche Bedeutung das Wassermanagement hat und wie umfangreich es ist. Ein aufwendig gestaltetes Landschaftsmodell in Form einer Murmelbahn läßt den Weg der Gewässer spielerisch erschließen.  Ein anderes Modell, ein zartes Gespinst aus zusammengeknüpften Fäden, stellt auf originelle Weise die Topografie des Oderbruch dar. Fotografien und authentische Berichte von Umfang und Folgen vergangener Hochwasser verbinden Fakten und Lebensalltag.

010_13
Die Kirche in Neulietzegöricke

Über Altreetz erreichen wir Neulietzegöricke, das erste nach der Trockenlegung des Oderbruch im 18.Jahrhundert gegründete Kolonistendorf. Heute erscheint dieses langgestreckte Straßendorf  schick herausgeputzt mit seinen links und rechts des grünen Angers aufgereihten Fachwerkhäusern. Diese stammen aus dem 19.Jahrhundert, nachdem das ursprüngliche Dorf abgebrannt war. Der tiefer gelegene grüne Anger war ursprünglich ein Entwässerungsgraben und lieferte Material, um die ersten einfachen Unterkünfte daneben höher zu legen. Die Gaststätte „Zum feuchten Willi“ finden wir verschlossen vor. Im Kolonisten-Kaffee – gleichzeitig unsere Unterkunft – genießen wir im Schatten von Bäumen und vielen gleichgesinnten Menschen Kaffee und hervorragenden Kuchen.

010_14
Im Theater am Rand

Am Rand

Ein wenig komme ich mir vor wie in einem Gebäude der Hobbits. Also, ich war noch nie in so einem Bau, aber ich habe da so meine Vorstellungen. Eigentlich sind sind das ja in der Tolkinschen Geschichte eher Erdhöhlen, niedrig, geduckt. Den kleinen Bewohner*innen angepaßt. Aber das, vor dem ich stehe, wurde von Erdlingen errichtet. Die sind ja bekanntlich größer als die „Hobbitze“. Nichts ist wirklich gerade und gezirkelt, alle Gebäude aus Holz und Lehm wie scheinbar einfach mal zusammengezimmert, begrünte Dächer, Trockentoiletten. Großzügig rund gebaut und verwinkelt, wie einem spontanen Einfall folgend. Organisch eben. Und ökologisch, im angeschlossenen Restaurant mit lokalen Bioprodukten der Saison. So soll wohl auch der Geist dieses Theaters sein. Unkonventionell, ein wenig spontan scheinend und gegen den Mainstream gerichtet. Das „Theater am Rand“ in Zollbrücke gleich hinter dem Deich an der Oder wollten wir schon seit langem einmal besuchen. Weit abgelegen von Orten und Metropolen, kurz vor dem Ende der gerade auf die Oder zulaufenden Straße an der Grenze zu Polen. Rechts und links umgeben von weitläufigen Feldern, Weiden und Wiesen, macht es damit seinem Namen alle Ehre. Und schließt sich in einigen Aspekten dem Trend an, die ich oben mit den Schlagworten ‚ökologisch’ und ‚biologisch’ beschrieb. Um im „Theater am Rand“ eine Vorstellung besuchen zu können, hatte ich diese Reise-Etappe von der Richtung her komplett umgedreht. Also Frankfurt/Oder als Ausgangs- und nicht Endpunkt dieser Etappe genommen. Um zum richtigen Termin am richtigen Ort zu sein.

010_15
Mit dem Fahrrad unterwegs

Langsamkeit I.

Ich war sehr neugierig, dieses ungewöhnliche ‚Schauspielhaus’ an der Oder kennenzulernen. Gereizt hatte mich die Vorstellungsankündigung mit dem Stück „Die Entdeckung der Langsamkeit“ nach Sten Nadolny als Inszenierung für einen Schauspieler (von und mit Thomas Rühmann) und einen Musiker (C. C.Poetzsch). Dieser Titel hatte offenbar etwas in mir ausgelöst. Kann das damit zu tun zu haben, wie meine Reise, auf der mir Flüsse den Weg weisen, abläuft? Ruhig und langsam. So wie die Idee, meinen Reiseblog Stück für Stück und geruhsam im eigentlich hektisch-schnellen Internet zu veröffentlichen? Da klingt etwas in mir an, das mich auf eigene Weise mit dem selbstbewußt bedächtigen Protagonisten der Geschichte, dem Seemann und Entdecker Franklin, zu verbinden scheint. Auch wenn ich nicht so ein Abenteurer bin. Und ob ich das Ende meiner Reise, für das ich noch einige Jahre brauchen werde, erlebe, wird sich zeigen. Ich hoffe jedenfalls auf ein besseres als das von Franklin, der sein Ende mit Schiff und Mannschaft im Eis der Arktis vor der Erreichung seines Ziels fand. Ist es das, was mich am Ende so berührt? Jedenfalls bin ich im Rund des Theaters nicht allein mit meiner Begeisterung, wie der lang anhaltende Beifall zeigt.

010_16
Oderfähre bei Gozdowice / Güstebieser Loose
Tonmix Fahrtgeräusch der Fähre bei Güstebieser Loose

Langsamkeit II.

Nach der Theatervorstellung und einer Stärkung im angeschlossenen Restaurant widmen wir uns noch einem anderen Kapitel der Langsamkeit. Einige Kilometer die Oder flussaufwärts tut seid 2007 wieder eine Auto- und Personenfähre zwischen Güstebieser Loose und Gozdowice ihren Dienst. Von April bis Oktober. Einmal die Stunde hin. Einmal die Stunde her. Je nachdem, wo man wartet. Auf polnischer oder deutscher Seite. Und warten müssen wir. Die Fähre hatte gerade abgelegt. 45 Minuten bis zur nächsten Abfahrt. Zeit, den Gott des Flusses, ‚Viadrus’, zu bewundern. Diese beeindruckende rote Skulptur des Bildhauers H. Engelhardt steht ein wenig zurückgesetzt unübersehbar auf einem kleinen Hügel. Der Gott ruht und hat den Blick entspannt flussabwärts gerichtet. Wir blicken gen unscheinbarem Fähranleger. Nach der langen Wartezeit legt die Schaufelradfähre mit ordentlich Getöse an, mit ordentlich Getöse legt sie mit uns und anderen an Bord gekommenen Menschen und Fahrzeugen ab. Dann ist wieder Ruhe. Hüben wie drüben Wir fahren einmal die polnische Straße hinauf, vorbei an Kirche und Kriegsmuseum. Sonst ist hier nix los. Die Straße wieder hinunter zum Fähranleger. Im Schatten von Buhnenbaumaterial hinter dem Schubboot für die Lastenkähne warten wir auf das Ablegen der Fähre. Auf dem Arbeitsschiff warten die Buhnenbauarbeiter in geselliger Runde auf den nächsten Tag. Die Kirchenuhr schlägt zur vollen Stunde und wartet bis zum nächsten Glockenschlag. Pünktlich hat unsere lange Wartezeit ein Ende. Die muntere Fährenmannschaft erscheint. Der Fahrplan muß erfüllt werden. Die Maschine wird dröhnend angeworfen, die beidseitigen Schaufelräder in Bewegung gesetzt. Das Wasser wird mächtig aufgewühlt. Wir tuckern zurück. Zwei Stunden Warten für zweimal fünf Minuten Fährenfahrt. Eine verrückte Idee. Hat aber Spaß gemacht.

010_17
Zimmer bei Terezas

Afrikanischer Abschluss

Die Fahrt nach Stolzenhagen ist eine Zugabe. Ich hatte schon meine vorherige Etappe dort ausklingen lassen. Petra, meine Frau war neugierig auf Tereza, die Gastgeberin der gleichnamigen Pension. Ein weitere Grund für sie, mich auf dieser Etappe zu begleiten. Tereza wiederum war neugierig auf Petra, die vor langer Zeit mehrere Reisen durch afrikanische Länder per Rad unternommen hatte. Tereza stammt aus Ruanda, das sie vor vielen Jahren zunächst in Richtung Schweiz verließ. Nun lebt sie mit ihrem Mann Jörg schon lange in dem Dorf und betreibt dort ihr kleines buntes Gästehaus als „co-working-space“. Beide widmen sich der Kunst, J. auch ländlichen Visionen, seinen besonderen Vorstellungen von der Gestaltung eines gegenwärtigen Landlebens. Vor vielen Jahren hat er mit diesen Ideen das aufgegebene Gut Stolzenhagen mit seinen vielen alten Gebäuden und Zweckbauten für „ein Appel und ein Ei“ erworben. Ich denke, dazu gehört viel Mut und eine Art gesunder praktischer Phantasie. Mittlerweile wird das historische Gut von einer Genossenschaft mit neuem Leben gefüllt. Wohnen, lernen, kommunizieren, arbeiten. Ein buntes Gemeinschaftsprojekt in sanierten, modernisierten, umgebauten historischen Gebäuden. Das Gästehaus von Tereza, in dem wir wohnen, war früher der Pferdestall. Es wurde von Jörg mit viel handwerklicher Phantasie und entsprechendem Können zu einer ganz eigenen Mixtur von Lebens- und Arbeitsräumen gestaltet. Bunt, vielseitig, zweckmäßig. Vieles nachhaltig aus „Upcycling“-Materialien. 

Und modern. Hier gibt es Internet. Das ermöglicht digitales Arbeiten in den ruhigen Räumen des Gästehauses. Wie es T. und K. praktizieren. Sie pendeln so zwischen Berlin und Stolzenhagen. Wohnen und arbeiten einmal dort, einmal hier. Wie es gerade kommt. Heutiges Arbeitsleben der jungen Generation im alten Pferdestall mit stabilem Netz. Ein Ort, ein paralleles Leben zwischen Großstadt und Dorf auf Zukunftsfähigkeit für ein digitales Nomadentum zu testen. Für Menschen, deren Arbeitsinhalte und -strukturen ein mobiles Homeoffice zulassen. Petra findet viel Zeit, sich mit K., der ghanaische Wurzeln hat, über ihre Erfahrungen, die sie während eines sechsmonatigen Arbeitsaufenthalts in Ghana machte, auszutauschen. Wie auch mit Tereza, die neugierig ist zu hören, was Petra auf ihren Fahrradreisen durch West- und Ostafrika so alles begegnete. Am letzten Abend verabschieden wir uns mit einem westafrikanischen Erdnusseintopf ‚Maffe‘, den ich auf einer Reise um den Gambiariver  kennengelernt hatte. Afrika an der Oder. Gelegenheit, noch einmal gemütlich zusammen zu sitzen und über ‚Gott und die Welt‘ zu plauschen. Ein gelungener Abschlussabend am Rande der Oder.

010_18
Abendstimmung an der Oder

Berührung

Irgend etwas hat mich an dieser Gegend am östlichen Rand der Republik schon bei der Planung besonders berührt. Irgendetwas, dass ich beginne, mich intensiver für das Oderbruch zu interessieren. Stärker als auf anderen Etappen dieser Reise bis hierhin. Ich kann nicht genau sagen, was diese besondere Neugier auslöste. Die Landschaft an sich, so, wie ich sie auf der Reise in ihrer Einfachheit und Übersichtlichkeit wahrnehme, sie kann es nicht sein. Oder doch? Ist in ihr nicht auch die Geschichte versammelt in ihren für mich nicht sichtbaren oder leicht zu übersehenden Zeichen? Vielleicht sind es die verschiedenen Ebenen von Gesehenem, Erfahrenem, Erspürtem und Gelesenem. Meine Begegnungen unterwegs sind eine weitere Ebene davon, eine zufällige. Ich bin nicht vorbereitet auf sie. Ich habe sie nicht gesucht, gefunden oder gar vorbereitet wie ein Journalist oder Reiseschriftsteller. Sie schiebt sich einfach als weitere Ebene hinein in mein Bild. Und alles miteinander gerät gemeinsam in eine besondere Schwingung. Wie auch ein Bild durch die verschiedenartigen Farben und Formen vor den eigenen Augen in eine eigene Schwingungen gerät. Wie eine besondere Berührung.

Von mir verfasst im Juni 2023. An dieser Stelle einmal einen lieben Dank an Petra, die meine Beiträge vor Veröffentlichung immer kritisch-konstruktiv durcharbeitet. Nun folgen wieder Eindrücke in bewegten Bildern von unterwegs. Es grüßt Euer „Alter Mann am Fluss“.