#5 Altes Land, neues Land – Teil 1.

005 1

Die vierte Etappe findet vom 26.Oktober – 2.November 2021 in Niedersachsen und Hamburg statt. Sie führt mich an Schwinge, Lühe und Este zurück zur Elbe. Von Stade aus erreiche ich so – nach einem Abstecher in die Nordsee zur Insel Helgoland – über Horneburg und Buxtehude Hamburg-Wilhelmsburg. Ich lege dabei 74 km zurück und fahre im norddeutschen Tiefland durch die niedersächsischen Elbmarschen mit dem Alten Land. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne Abstecher und Umwege) auf komoot: Von Stade nach Hamburg. (Wenn ihr dort ganz nach unten scrollt, wird die Wegführung auf einer Karte angezeigt)

005_2
Kraniche über der Nordheide

Ouvertüre

Der Zug der Vögel wächst in der Woche vor Reisebeginn stetig an. Endlich ziehen von Sonnenaufgang bis weit nach Sonnenuntergang unentwegt Gänsevögel und Kraniche über unseren Wohnwagen in der Nordheide hin. Bevor ich sie sehen kann, höre ich schon ihre Rufe.

Während die schnellen Flügelschläge die Gänse mit ihren kurzen abgehackten Rufen hektisch erscheinen lassen, schweben die Kraniche gleichsam majestätisch dahin, Aufwinde suchend und dabei langgezogene trompetenartige Rufe ausstoßend, die in meinen Ohren wie ein hohes rollendes „R“ klingen. Als heftige Sturmböen intensive Regenschauer aus Nordwesten über das Land jagen, ebbt der Vogelzug kurz ab. Sobald das widrige Wetter sich langsam zu freundlicherem wendet, nimmt er wieder zu. Die gefiederten Scharen werden mächtiger an Zahl. Hundertfünfzig, zweihundert Exemplare in der typischen Keilformation sind keine Seltenheit in jenen Herbsttagen. Ganz in der Nähe liegt das Tister Bauernmoor in der oberen Wümmeniederung. Dort liegt eines ihrer jährlichen Etappenziele auf dem weiteren Vogelflug.

DWD und andere Vorhersagedienste

Das Sturmtief in der letzten Woche, die erbarmungslosen Regenschauer und die folgende Kälte bei Tag und Nacht erleben wir auf unserer ‚Datsche‘ auf dem Campingplatz Nordheide. Von hier aus, so meine Planung, werde ich zur nächsten Etappe starten. Diesmal nicht allein. Meine Frau wird mich begleiten. Das Wetter ist und bleibt der Unsicherheitsfaktor bei meinen Reisen. Denn die Festlegung der Reiseroute, das Buchen der Unterkünfte findet ja weit vor dem eigentlichen Reisegeschehen statt. Bange Blicke auf die Wettervorhersagen – ja, Mehrzahl, ich schaue da parallel auf mehrere Wetter-Apps – lösen sich in entspannter Stimmung auf. Kein ekliges Tief steht mehr auf dem Wetterplan, kein Regen und Sturm dräuen, es soll ein wenig wärmer werden. Das hängt auch mit der prophezeiten Windrichtung zusammen. Es wird wohl wieder aus Süd und Südwest wehen. Was mich ein wenig irritiert. Ist doch meine Faustregel, dass hier im Norden der Wind überwiegen aus Nord und West und dazwischen weht. Liege ich damit falsch?

Strickwaren

In Stade endete meine letzte Reise-Etappe, in Stade beginnt daher die aktuelle. Die alte Hansestadt an der Schwinge erreichen wir mit dem Regionalzug. Noch bevor wir unser Quartier in der Altstadt beziehen, finden wir uns im Werksladen einer alten ortsansässigen Strickerei ein. In einem Fernsehbeitrag wurde die Produktionsstätte vor Zeiten mit einem filmischen Portrait vorgestellt. Damit war meine Neugier geweckt. Die Strickerei ist gerade dabei, sich mit einem neuen, spannenden Unternehmenskonzept und mit nachhaltigen Produkten den Herausforderungen der Zeit zu stellen. Sie will als gemeinwohlorientiertes Unternehmen soweit wie möglich lokal, sozial und umweltverträglich produzieren und damit Alternativen zu den Nachteilen globalisierter Produktion finden. Ich habe bis dato von derartigen Versuchen noch nichts gehört. Es ist auf jeden Fall ein spannendes und bedenkenswertes Konzept. Da müssen natürlich die Produkte überzeugen. Wir lassen uns ausführlich beraten und kaufen ein. Mit einer Jacke und weiterem wertigen Strickzeug beladen fahren wir weiter. Tatsächlich werden mir diese so gar nicht fahrradtauglich scheinende Kleidungsstücke während der nächsten Tage gute Dienste leisten. Gemessen am Preis müssen sie das auch. Reines Naturmaterial und ein hoher Anteil handwerklicher Herstellung im Stader Werk kosten eben. Chinaware ist billiger. Fast in jeder Hinsicht. Außer man betrachtet die Produktions- und Nutzungskette mit Blick auf ökologische und soziale Folgen. 

005_3

Fischbrötchen tut not 

Da wir in unserem Quartier erst am Abend einchecken können, gehen wir unserer Lieblingsbeschäftigung im Norden nach. Wir verspeisen Fischbrötchen. Die einfachen Fischbuden oder Fischbratküchen entlang der Küste haben es uns angetan. In Stade steht so ein Imbiss am alten Stadthafen und liegt freundlicherweise auf dem direkten Weg zu unserer Pension in der Altstadt. Wie praktisch. 

005_4
Museumsschiff Greundiek

Am Stehtisch halten wir einen kurzen Schnack mit einem ehrenamtlichen „Matrosen“ der „Greundiek“, dem in Sichtweite liegenden Museumsschiff. Er verzehrt gerade seine Portion Pommes, wir beißen herzhaft in unser Fischbrötchen mit Matjes. Der ‚‘Verein Alter Hafen Stade e. V.‘ hat das alte Küstenmotorschiff, das eine lange bewegte Geschichte hinter sich hat, gekauft und über Jahre wieder in einen fahrbaren Zustand gebracht. Gewartet und betrieben wird es weiter von seinen ehrenamtlichen Mitgliedern. Mit viel Engagement haben sie es geschafft, dass die „Greundiek“ mittlerweile als technisches Kulturdenkmal Niedersachsens eingestuft wurde.

Seefahrt

Auf ein Schiff steigen wir auch. Wir machen einen Abstecher nach Cuxhaven. Das Schiff ist so ein neumodisches, ein Katamaran. 680 Menschen könnten darauf Platz nehmen und mit einer Geschwindigkeit so um die 60 km/h über die Deutsche Bucht nach Helgoland transportiert werden. So viele werden es aber nicht an diesem stürmischen Herbsttag. Liegt das auch an der Warnung, nicht seefeste Menschen könnten auf der anderthalbstündigen Überfahrt ein gewisses Unwohlsein verspüren? Wer wollte, könnte daher auch noch kurzfristig gegen Fahrtkostenerstattung zurücktreten. Will ich nicht, ich weiß, ich bin seefest. Meine Frau P. will auch nicht – obwohl sie weiß, dass sie nicht seefest ist. Es gibt für uns auch einen wichtigen Grund für diese Seefahrt. Wir wollen unsere Buchholzer Familie auf dem Inselfelsen treffen, die dort Urlaub macht. Dafür haben wir frühzeitig gebucht. Und zu meiner Reise passt die Nordsee ja sowieso. Schließlich nimmt sie fast alle Fließgewässer auf, die mir Anlass und Wegweiser sind. Viele Wasser, die mir begegnen werden, enden hier in der Nordsee.

005_5
Mit dem Katamaran von Cuxhaven nach Helgoland

Die Überfahrt wird heftig. Ich habe schon einige bewegte Seefahrten erlebt. Allerdings auf konventionellen Schiffen Mit diesen waren sie für mich eher ein Vergnügen. Auf dem Meer ohne Schaukeln ist für mich langweilig. Wellen müssen sein. Doch dieser Katamaran hat einen eher unangenehmen Kontakt zur See. Immer wieder hebt der Bug ab, um kurz danach mit lautem Krach auf die stark bewegte See zu prallen. Immer wieder schlägt der Rumpf auf. Das ist für mich keine Seefahrt. Der Katamaran passt sich der See nicht an. Mit seinen auf Geschwindigkeit getrimmten Motoren bekämpft er sie. Ein Aufenthalt im Freien ist mittlerweile untersagt, alle müssen bei zunehmender Windstärke und stärkerem Wellengang ihre gebuchten Plätze einnehmen. Alles wirkt wie im Flugzeug. Selbst die Gepäckfächer über unseren Köpfen. Nur Gurte zum Anschnallen fehlen. Bald kommt das Bordpersonal in Schweiß. Überall müssen Spuckbeutel und Papiertücher verteilt werden. Und das, ohne beim Eilen durch die Gänge das Gleichgewicht zu verlieren. Während dieser Hektik springt neben uns krachend die Tür eines Schranks mit Rettungsmaterial auf. Nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen der Stewards, die Tür zu verschließen, wird sie schließlich provisorisch mit Gaffertape verklebt. Da muss ich doch ein wenig die Stirn runzeln. Sei es wie es sei, als wir den Inselhafen anlaufen, habe ich eine Fahrt hinter mir, die ich nicht spaßig fand. Mir geht es gut, bin aber von dieser Überfahrt enttäuscht. P. ist froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. 

Wir verlassen den Katamaran ganz konventionell über eine mobile Gangway. Ein Ausbooten auf den offenen Börte-Booten wie noch vor einigen Jahren gibt es zu meinem Bedauern nicht mehr. Damals, in kindlichem Alter, nahm ich den Umstieg sportlich und hatte Spaß an dem kleinen Abenteuer. Das war zu Zeiten, als Massen von Menschen das Helgoländer Unterland regelrecht „fluteten“, um sich mit zollfreien Spirituosen und Rauchwaren einzudecken. Als sogenannte ‚Butterfahrten‘ zu einem Spottpreis noch große Mode waren. Mein Beitrag zur florierenden Helgoländer Wirtschaft damals: eine kleine Seehundsfigur. Angeblich aus echtem Seehundsfell. 

Zollfreier Einkauf geht immer noch und prägt auch den ersten Eindruck beim Flanieren gleich hinter dem Hafen. Es hat sich nicht viel geändert. Das Gesicht von Helgoland ist irgendwie noch das gleiche. Das liegt daran, dass die meisten Gebäude unter Denkmalschutz stehen. So sieht es dort immer noch aus wie in den fünfziger, sechziger Jahren. Mir gefällt das nicht.

005_6
Helgoland

Unser Tagesaufenthalt ist kurz. Wir laufen mit Enkeln, Sohn und Schwiegertochter viele Treppen hinauf, einmal über den Felsen im Kreis und viele Treppen wieder hinunter. In Erinnerung bleiben die „Lange Anna“, der heftige Wind, der die steile Felsküste bearbeitet und die individuell, den wenigen Platz kreativ und optimal ausnutzend, gestalteten Kleingärten der Insulaner*innen. Staunend betrachten wir Früchte an Feigenbäumen. Feigenbäume! Hier im Norden. Krass! Unterwegs begegnen wir ständig merkwürdig ausgerüsteten Menschen, Stative, Fernrohre, Spektive, Kameras mit unhandlich langen Optiken schleppend, schwitzend unter der Last dieser Menge an Werkzeugen. Wonach halten sie wohl Ausschau? Ich sehe nichts. Wahrscheinlich wegen der unzureichenden Brennweite meiner mir angeborenen Optik. 

Die Rückfahrt verläuft vergleichsweise ruhig und verhilft mir sogar zu einer Mütze voll Schlaf nach der Mütze voll rauher Nordseeluft.

005_7
Bronzene Hanse-Kogge am Fischmarkt/Stade

Alt

Stade überrascht mit einer gut erhaltenen Altstadt. Viele Touristen sind bei sonnigem Herbstwetter unterwegs, die Tische der Außengastronomie sind gut besetzt. Vor dem Café im Goebenhaus müssen wir sogar anstehen, bis wir einen Platz ergattern können. Die gepriesene ‚Stader Torte‘ ist dann leider „schon aus“. Schade auch! Das imposante Ensemble alter Fachwerkhäuser stammt überwiegend aus der Zeit nach einem großen Brand im Jahre 1659. Während der Zeit der Hanse ab dem 13.Jahrhundert war Stade zeitweilig bedeutender als Hamburg. Über die Schwinge erreichten die Handelsschiffe die Elbe und segelten von dort nach Dänemark und Holland. 

005_8
Die Stader Altstadt am Fischmarkt

Die Häuser sind auch heute noch Ausdruck des damaligen Reichtums der Kaufleute. Nicht nur tagsüber, auch nachts ist die Altstadt in Beleuchtung beeindruckend. Zufällig geraten wir in eine Demonstration alter Orgelbauerkunst in der Kirche ‚St. Cosmae et Damiani‘. Arp Schnitger, später Erbauer berühmter Orgeln in Nordeuropa, war an dem Bau der Stader Orgel bis 1675 als Geselle beteiligt. Es ist erstaunlich, welch verschiedene Klänge dem Pfeifenwerk entlockt werden können.

Glocken und Orgel St. Cosmae et Damiani
005_9
Karikaturen und Fachwerkhäuser am Stader Hansehafen

Die Kaimauern des alten Hansehafens am Fischmarkt sind vorübergehend mit großformatigen Karikaturen des Künstlers Tetsche versehen, die er für diese Freiluft-Ausstellung an diesem historischen Ort entwarf. Sie ist nicht unumstritten in Zeiten von Gendersternchen und #MeToo-Auseinandersetzungen. Verständlich, doch gemalte Comedy-Satire wie diese darf sein, finden wir. Klar, sie eckt an, bringt uns aber auch zum Schmunzeln. Und sie so öffentlich sichtbar als Freiluftausstellung zu präsentieren ist natürlich mutig.

005_10
Vor dem Atomkraftwerk Stade

Neu

Weniger idyllisch sieht das Elbufer links und rechts des Stader Sands aus, dem wir einen Kurzbesuch abstatten. Am Vormittag ist noch nichts los, das Restaurant „Elbblick“ noch geschlossen. Der Fähranleger liegt verwaist da, die Saison ist beendet. Dort legen erst wieder im nächsten Frühjahr Schiffe an. Vom Ponton aus erblickt man weit entfernt das Aluminiumoxid-Werk Stade mit dem vorgelagerten Seehafen, gleich nebenan die weitläufigen Produktionsanlagen von Dow Chemical und Dupont. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schwingemündung in die Elbe liegt das Kernkraftwerk Stade. Es ist das erste nach dem Atomausstieg stillgelegte Kernkraftwerk Deutschlands. Es befindet sich seit 2005 immer noch im Rückbau, der bis zu seinem Ende wohl eine Milliarde Euro gekostet haben wird.

005_11
Blick vom Stader Sand auf das Industriegebiet

Die Elbe wird durch die Stilllegung entlastet. Wurde doch entnommenes Kühlwasser wärmer in die Elbe zurückgeleitet als bei der Entnahme. Wie auch an allen anderen neun Kernkraftwerken an Deutschlands Flüssen. Entlastung für die Elbe gibt es jedoch nicht bei der Erhaltung als Schifffahrtsweg. Es wird weitergebaggert. Um den Hamburger Hafen weiterhin für die ständig größer werdenden Containerriesen offen zu halten, wird der Fluss nicht nur vertieft, er wird auch verbreitert. Zulasten des gesamten ökologischen Gleichgewichts. Und das nicht nur im und unmittelbar am Fluss wie hier in Stade. Auch im Watt vor Cuxhaven bei Scharhörn, wo der ausgebaggerte Schlick verklappt wird. Der Fluss als billiger industrieller Dienstleister, ein scheinbar unendliches Kapitel und Grund für immer neue Proteste von Umweltschützern, Parlamentsdebatten und Gerichtsterminen.

Klang der Elbe am Stader Sand

Soweit der erste Teil von „Altes Land, neues Land.“, verfasst im November 2021. Weiter geht es mit der Fortsetzung in Teil 2. Dort findet ihr zum Abschluss auch wieder ein zusammenfassendes Video dieser Reise-Etappe