Altes Land
Wir verlassen Stade und lenken unsere Fahrräder den Deich entlang elbaufwärts. Stapfen durch den Sand am Bassenflether Elbstrand, passieren das Twielenflether Leuchtfeuer und den Leuchtturm, fahren vorbei in Sichtweite der Elbinsel Lühesand, auf deren Campingplatz die Saison beendet ist. Der Fährverkehr hinüber ist bis zur Wiedereröffnung im nächsten Jahr eingestellt. An der Lühemündung wenden wir uns landeinwärts. Straße und Wohnbebauung folgen den Flusswindungen. Straßendörfer, wie viele in dieser Kulturlandschaft.
Wir befinden uns mitten im Alten Land. Die riesigen Obstplantagen reichen von der Rückseite der Höfe bis zum Horizont und manchmal fangen sie schon an der Straße längs der eingedeichten Lühe an. Es ist Erntezeit, auf den Höfen ist emsiger Betrieb. Große Obstkisten voller Äpfel werden bereitgestellt und auf die wartenden LKW verladen. Einige Sorten werden in die großen Hallen im Hintergrund eingelagert, wo sie in einer spezielle Atmosphäre gekühlt bis zum Frühjahr essbar bleiben.
Manche Häuser an der Straße sind Jahrhunderte alt. Prächtig und mächtig stehen sie da, bestens erhalten, die verzierten Fassaden mit den weißgestrichenen Balken und den roten weiß verfugten Ziegeln, leuchtend in der Sonne. Die ein oder andere Prunkforte ist zu bestaunen, dort, wo das Haus zurückgesetzt über einen Weg zu erreichen ist.
Horneburg, wo wir den Lauf der Lühe verlassen werden, bleibt mir irgendwie gesichtslos in Erinnerung. Auf der Suche nach einer Mittagsrast kommen wir an über den Mittag geschlossenen Bäckereien und erst am Abend öffnenden Restaurants vorbei. Einzig ein Eiscafé mit einem ausreichenden Snackangebot lockt uns zum sonnenbeschienenen Außenbereich. Da wir nach Buxtehude wollen, um von dort die Este hinunter wieder an die Elbe zu gelangen, müssen wir den Fahrradweg auf der linken Seite entlang der B 73 nehmen. Diese Fahrt ist unangenehm. Der Verkehr auf der Bundesstraße, der uns entgegenkommt und an uns vorbei rauscht, ist dicht, laut und unaufhörlich. Außerdem müssen wir aus dem Urstromtal der Elbe den Geestrücken hinaufklettern. Und wo es wieder hinuntergeht, warnt uns eine Radfahrerin vor Glassplittern auf dem Weg. In einer kurzen solidarischen Aktion säubern wir den Weg soweit wie möglich vor diesen Feinden unserer Bereifung. Wir mögen keinen Platten. Der Forst Neukloster mit seinem gepriesenen alten, großen Buchen- und Eichenbestand grenzt direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite an den stetigen Verkehrsfluss. Mir ist heute nicht mehr danach, einen Wald zu erkunden. Auch wenn hier mit der Paterbornquelle ein Kraftort liegen soll. Kraft die ich heute gut gebrauchen könnte. Ich möchte das Tagesziel Buxtehude erreichen.
Auch Buxtehude ist wie Stade eine alte Hansestadt mit Hafen. Doch dieser ist eher langweilig, schon allein deshalb, weil es hier kein Fischbrötchen oder Backfisch an einem Imbiss gibt. Einzig dem Westfleth mit seiner historischen Bebauung und dem musealen Ewer ‚Margareta‘ mittendrin gelingt es, mich zu beeindrucken. Aber Buxtehude ist nur ein Zwischenziel, es bleibt keine Zeit, uns länger umzuschauen.
Ohne Ende
Wir verlassen die Stadt am kommenden Morgen über die Moorender Straße. Diese zieht sich weit entlang der hinter dem Deich unseren Blicken verborgenen Este durch das namensgebende Straßendorf Moorende. Es sieht irgendwie gemütlich aus, wie sich die alten Häuser an die Flusswindungen schmiegen. Immer noch prägen spalierstehende Obstbäume das Land dahinter. Rotleuchtende Winteräpfel hängen wie Trauben an den kurzen Ästen der ernteleicht beschnittenen Baumreihen.
Roter Gravensteiner? Oder Roter Berlepsch? Ich weiß es nicht. Mein Apfel ist der Rote Imperial. Süß und knackig. Zur Not auch der Mutsu. Ähnlich schmeckend. Das sind Äpfel, die hier eher nicht zu finden sind. Sie wachsen vor den Toren Hannovers und werden auf dem Bauernmarkt meiner Wahl feilgeboten. Die Namen der Altländer Produkte sind eher bekannte Handelsware wie Elstar, Jonagold, Cox Orange. Das übliche. Doch wer kennt schon all die anderen Apfelnamen alter und neuer Sorten? Hunderte werden es sein. Wohlklingend oder kurios wie ‚Agathe von Klanxbüll’, ‚Altländer Pfannkuchenapfel’, ‚Zimmermännle’, ‚Zuchtnummer T 31/13’, ‚Ökonomierat Echtermayer’, ‚Luntersche Pippeling‘‚ ‚Krumme Lore’, ‚Paderborner Seidenhemdchen’ oder auch ‚Edler Rosenstreifling’. Manche davon könnte ich mir mit ein wenig Fantasie auch als klangvollen Namen spezieller Insektenarten vorstellen.
Wie dem auch sei. Die meisten der im Alten Land im großen Stil produzierten Früchte werden bereits massenhaft in den Auslagen der Supermärkte ringsum oder weit weg zum Kauf angeboten. – Wie sich in der weiten Landschaft Apfel an Apfel, Baum an Baum reihen, reiht sich in Moorende Haus an Haus bis hinein nach Estebrügge, wo wir den Fluss über die schmale ungewöhnliche Drehbrücke überqueren. Wir kommen ein wenig zu spät, um sie in Aktion zu erleben. Die Brückendreherin hat sie gerade wieder für den Straßenverkehr freigegeben. Es ist jetzt nicht mehr viel los, sagt sie. Die Sportbootsaison geht dem Ende entgegen.
Hamburg
In Cranz haben wir den westlichen Zipfel Hamburgs nördlich der Elbe erreicht. Das auf der Karte im Internet verzeichnete Café am Sperrwerk der Este-Mündung in die Elbe gegenüber der großen Werft gibt es nicht mehr. Einen Kaffee hätte ich gut gebrauchen können. Also geht es weiter. Wir machen einen Schlenker um die Landebahn des Flugzeugbauers Airbus herum, die wie ein Störkörper in die Obstbaumreihen von Neuenfeld hineinragt.
Mit dem Hamburger Stadtteil Finkenwerder durchqueren wir immer noch Obstanbaugebiet. In einem Hofladen versorgen wir uns mit einer kleinen Tagesration. Die Fähre hinüber nach Teufelsbrück auf der nördlichen Elbseite bringt uns dann endlich ins Kaffeeglück. Es begegnet uns in Form einer Crêpes-Bude gleich hinter dem Fähranleger, deren freundliches Angebot zu einer kurzen Rast wir gerne annehmen. Man gut, denn danach wird’s ungemütlich für uns Radfahrer. Der vorgesehene Weg gleich an der Elbe entlang in Klein-Flottbek ist wegen Bauarbeiten gesperrt. An der ebenso mit einer langen Baustelle versehenen Elbchaussee müssen wir über die eingeschränkten Gehwege, mal hüben, mal drüben, schieben. Vor Övelgönne wird uns das Fahrradfahren kurz einmal vergönnt. Dann heißt es wieder schieben entlang der Lotsenhäuser oberhalb des langen Elbstrands. Wenn hier nicht einmal Fahrräder erlaubt sind, wie schaffen die Menschen Lasten hierher. Möbel, Waschmaschine und sonstige schwere Waren des täglichen Bedarfs? Was nehmen sie in Kauf für diese herrliche Wohnsituation am Fuße des hohen Geestrückens, zu dem es ordentlich steil hinan geht. Die Vorgärten sind knapp bemessen, dafür liegen wenige Schritte gegenüber noch einmal große, sehr unterschiedlich genutzte Gartengrundstücke mit unverstelltem Blick auf die Elbe. Wir kämpfen uns weiter durch die Menge an Menschen, die das gute Wetter zu einem Spaziergang längs der Elbe nutzen.
Erst am Museumshafen dürfen wir wieder in die Pedalen treten. Zwischen Fischereihafen und Fischmarkt werden wir jäh gestoppt. Was ist geschehen? Haben wir da eben ‚Fisch & so‘ gelesen? Jau. „Moin, einmal Pannfisch mit Kartoffelsalat und eine Fischsuppe bitte.“ Zu einer einfachen Fischbratküche wie dieser, wo der Frischfisch in der Auslage präsentiert und dahinter öffentlich gebraten wird, werden wir wie von einem Magneten unwiderstehlich angezogen. Nach dem stärkenden Mahl ertragen wir auch die Unbilden der letzten Kilometer. Wieder mit Menschenmassen zwängen wir uns in den von Securitymitarbeitern gemanagten Lastenaufzug des Alten Elbtunnels am Nordeingang einmal runter, den schmalen Tunnel-Fahrweg weiter und am Südeingang wieder hinauf.
Nach einer kurzen Strecke über den breiten Fahrradweg im Steinwerder Hafengebiet müssen wir kurz hinter der Ernst-August-Schleuse schon wieder absteigen. Ein massives Polizeiaufgebot hat eine relativ kleine Antifa-Demo mit Gittern über die ganze Straße abgesperrt und mit einem Wasserwerfer abgesichert. Nun ja, wer sein Fahrrad liebt, der schiebt. In Hamburg gerne über die Grasnarbe eines Deichs. Und kurz darauf noch einmal auf dem Fußweg entgegen der Einbahnstraße Vogelhüttendeich, an der unsere Unterkunft liegt. Wir sind angekommen in Wilhelmsburg.
Begrüßung
Dieser Stadtteil – das Wilhelmsburger Inselquartier – erweist sich für uns als idealer Standort. Er kommt bunt und lebendig daher. Beschreibung für Hannoveraner: er erscheint mir wie unsere Stadtteile Linden und Nordstadt in eins. Neben den obligatorischen Dönerbuden gibt es ein familiäres portugiesisches Restaurant mit angeschlossenem Café ganz nach unserem Geschmack. Busse fahren in engem Takt zum S-Bahnhof Veddel. Und in wenigen Minuten erreichen wir von hier aus mit dem Fahrrad hinter dem Reiherstieg-Hauptdeich direkt das Hafengebiet. So sind wir gefühlt fernab des touristischen Trubels um die Landungsbrücken und St.Pauli herum. Dennoch ist alles gut erreichbar. Wir teilen die restlichen Tage den individuellen Wünschen entsprechend auf. So machen wir zunächst einen Tagesausflug nach Wedel ganz nebenan von Hamburg auf schleswig-holsteinischem Boden. Die Plätze am Schulauer Fährhaus und Fischimbiss am ‘Willkomm höft‘ sind bei herbstlichem Sonnenschein gut besetzt. Natürlich reihen wir uns in die Reihe der Fischbrötchen-Fans ein und warten geduldig auf das Produkt unserer Begierde.
Dann setzen wir uns an den Fähranleger, um auf das zu warten, was diesen Ort seit Jahrzehnten attraktiv macht. Immer noch werden alle großen Schiffe über 1000 Bruttoregistertonnen mittels auf die Elbe gerichteter Lautsprecher in Landessprache und mit der jeweiligen Nationalhymne begrüßt oder verabschiedet. So hören wir einmal die norwegische und einmal die polnische Nationalhymne im typisch blechernen Sound der Schiffsbegrüßungsanlage. So hat es auch schon vor Jahrzehnten geklungen.
Den Abend nutzen wir, um in der Dunkelheit unsere Fahrräder durch einen Teil des Hafengebiets zu im Internet empfohlenen Fotospots zu steuern. Meine Idee. Doch ich muss einsehen, dass die Brennweiten meines Smartphones nicht ausreichen. Und nicht nur das. Auch die Zeit reicht nicht. Das liegt natürlich auch an der Art und Weise, wie ich reise. Bestimmte Motive fotografiert man nicht eben mal so nebenbei. Oder liegt mein Problem wo anders? Ich weiß es nicht und bin ein wenig verunsichert. Sei es wie es sei, ich werde mich mit den Möglichkeiten meines Smartphones und kurzen Augenblicken bescheiden müssen, um Bilder für die Blog-Texte zu liefern. Eine fette Kameraausrüstung kommt mir nicht ans Fahrrad. Das steht fest. Ich hoffe, dass die weiteren Etappen Möglichkeiten bieten, meiner Unzufriedenheit eine Lösung zu bieten. Vielleicht muss ich einfach nur geduldiger werden.
Globale Ladung
Einen näheren Blick auf den Betrieb im Hafen zu werfen, das ist mir wichtig. Wenn nicht im Dunklen, dann eben bei Tag. Schließlich gehört auch das zu meiner Reise, auf der mir Flüsse – wie aktuell die Elbe – den Weg weisen. Unseren Weg zum Hafen legen wir mit den Bussen der Linie 13 und 152 bis zur Endhaltestelle ‚Fähranleger Neuhof‘ zurück. Von dort wollen wir mit der Fährlinie 63 Richtung Fischereihafen fahren. Sie ist nicht gerade eine touristische Linie. Das mag auch unsere Schwierigkeit erklären, den Fähranleger zu finden. Der Zugang, auf den kein Schild hinweist, liegt etwas versteckt und unscheinbar etwa hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt. Er ist wohl nur etwas für Kundige, also Menschen, die in der Umgebung ihre Arbeitsplätze von hier aus erreichen. Bis zur Abfahrt der Fähre ist noch etwas Zeit. Genug, um den Verkehr auf der Süderelbe, die hier das Hafenbecken bildet, aus der Nähe zu beobachten. Das Schauspiel wird von der gemächlichen Schleppfahrt des Containerschiffs „Montreal Express“ der Hapag-Loyd-Linie unter der Köhlbrandbrücke hindurch eröffnet. Mit seinen 294 Metern Länge wird es wohl zum Terminal Altenwerder gelotst, um dort die Ladung zu löschen. Wer weiß, wie dringend der Inhalt der stählernen Transportboxen erwartet wird. Überall, so höre ich, gäbe es nach einer ‚Coronapause’ mit Störungen der Produktion auf dem gesamten Globus Lieferengpässe in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Vielleicht sind in den Containern Ersatzteile für unsere Fahrräder, auf die der Händler unseres Vertrauens wartet? Und die wir so dringend benötigen. Aus Richtung Altenwerder kommt kurz darauf die „Santa Viola“, ein ebenso großer Frachter, dessen Vorbeifahrt den Start unserer Fähre etwas verzögert. Und als sie dann den Anleger verlassen, Fahrt aufnehmen kann und den großen Frachter überholt, passiert schon die „Charlotta B“ in Gegenrichtung den Containerriesen, um ebenfalls unter der Köhlbrandbrücke hindurch zu fahren. Diese eindrucksvoll geschwungene Brücke soll, wie zu lesen war, nur noch wenige Jahre zu sehen sein. Der Bund und das Land Hamburg wollen sie langfristig durch einen doppelstöckigen Tunnel ersetzen.
Globaler Hafen
Die mächtigen Frachtschiffe sind der wichtigste Teil des Hamburger Hafengeschäfts. Nach ihnen richtet sich sein gesamter Rhythmus. Das heißt: Warenumschlag rund um die Uhr. LKW und Güterzüge stehen ständig bereit, warten darauf, die Fracht aus aller Welt aufzunehmen und sich Stunde um Stunde damit aus der Stadt herauszuwinden. Der Verkehr, der Verkehrsfluss, die gesamte Infrastruktur bestimmen das Gesicht dieses riesigen Industriekomplexes und die Stadtteile ringsum.
Der Fluss Elbe als solcher ist im Gebiet des Hamburger Hafens nur marginal erkennbar. Er wird selbst zur Infrastruktur, degradiert zu einem industriellen Zweckbau mit Brauchwasser für die unterschiedlichsten Zwecke. Und drumherum überlagert von all den verwirrenden Geflechten, die von ihm leben, nur durch ihn existieren. Dem Lärm und Dreck, Stahl und Beton zum Trotz geraten Elbe und Hafen immer noch zu einem Mythos, um den sich Geschichte, Geschichten, Persönlichkeiten und Schicksale ranken. So werden Elbe und Hafen in Hamburg zu einer Art Projektionsfläche aller Aspekte der Globalisierung seit ihren Anfängen. Und dennoch oder gerade deswegen zieht der Hafen Touristen aus der ganzen Welt an, was wiederum zu einem eigenen Geschäftsfeld wird. Selbst dort, wo Hafenflächen ausgedient haben, werden sie mit lukrativen Immobiliengeschäften neu belebt.
Und womit endet unser Tagesausflug ganz profan? Nun, alle können es sich denken. Lecker nordisch mit …! Natürlich am Hafen. Übrigens: den sonntäglichen Fischmarkt besuchten wir nicht. Er unterliegt aktuell strikten Coronabedingungen. Das heißt: kein Marktgeschrei, keine Live-Musik, kein Verzehr von nichts, also auch keine – ihr wißt schon – FISCHBRÖTCHEN. Was sollten wir dann da?
Von mir verfasst im November 2021. Es folgen einige Impressionen in Bewegtbildern von unterwegs. Ich wünsche allen, gesund über Weihnachten und den Jahreswechsel zu kommen. 2022 geht meine Reise hoffentlich weiter. Es grüßt alle ganz herzlich Euer „Alter Mann am Fluss“.