Reiseverlauf.
Die zweite Etappe findet vom 23. – 30.September 2021 in Niedersachsen statt. Sie führt mich an Hamme, Oste-Hamme-Kanal, Oste und Neuhaus-Bülkau-Kanal an die Elbmündung. Von Bremen-Burg aus erreiche ich über Bremervörde, Wingst, Neuhaus/Oste und Freiburg/Elbe mein Ziel Stade. Ich lege dabei 318 km zurück und fahre im norddeutschen Tiefland durch Fluss- und Seemarschen, durch das Teufelsmoor und die Stader Geest. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne Abstecher, Umwege und Tagesausflüge) auf komoot: Von Bremen nach Stade.
Durchs große Moor
Der kräftige Wind bläst mich an der Hamme hinauf durch die nach ihr benannte satt-grüne Niederung. Soweit man in diesem flachen Land von hinauf sprechen kann. Ich fahre durch eine flache weite ehemalige Moorlandschaft, das Teufelsmoor. Heute dehnt sich bis zum Horizont grünes Kulturland aus. Wiesen und Weiden zunächst. Später auch Mais soweit das Auge blicken kann. Als ich vor einigen Jahren mit dem Fahrrad aus der Lüneburger Heide kommend Richtung ostfriesische Küste durch das Teufelsmoor fuhr, nahm ich nichts als ausgedehntes Grasland wahr. Sattes Grün ohne Ende. Wären da nicht ab und zu einfache Weidezäune gewesen, es hätte eine Prärielandschaft sein können. Und die wenige Kühe wären Bisons, die diese Landschaft grasend durchstreiften. So meine Phantasie. Vom ehemaligen Moor hatte ich damals noch nicht viel gehört. Doch entlang der Hamme, die von der Beek, der Rummeldeisbeek, der Kollbeck und dem Giehler Bach gespeist wird, befand sich vor einigen Jahrhunderten das größte zusammenhängende Moor auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen.
Moore entstehen
Um die Zeit vor 135 000 Jahren war die Landschaft, die ich auf ebenem Asphaltradweg durchfahre, mit bis zu 1000 Metern mächtigen Eisschichten bedeckt. Unvorstellbar der Zeitraum, unvorstellbar die Kraft dieser kontinentalen Gletscherungetüme. Zurückweichend bei Ankunft einer neuen Warmzeit spülten sie mit gewaltigen Schmelzwassern im Bereich der heutigen Hamme eine Senke aus. Sie hinterließen dort riesige Sand- und Kiesflächen. Und noch einmal wurde es kalt. Das war vor 20 000 Jahren. Noch so ein Zeitraum, der dem menschlichen Geist nicht wirklich zugänglich ist. Das damalige Eis erreichte das Gebiet des heutigen Bundeslandes Niedersachsen jedoch nicht mehr. Ringsum war Tundra, offen und baumlos. Durchzogen von zahlreichen Flüssen, die noch einmal Sand ablagerten. Wasser allerorten. In entstehenden Feuchtgebieten begannen Moose und andere Sumpfpflanzen einen langen stetigen Kreislauf von Wachsen und Absterben, Wachsen und Absterben, Schicht auf Schicht. So entstanden über tausende Jahre Niedermoore, von denen einige zu Hochmooren heranwachsen konnten.
Moore vergehen
Erst im 13.Jahrhundert begannen erste Kolonisten die Niedermoore des Teufelsmoors zu besiedeln. Ab Mitte des 18.Jahrhunderts wurde im großen Stil damit begonnen, das Moor zu entwässern und den Torf abzubauen. Für die ersten Siedlerinnen bedeutete das ein karges, mühevolles Leben. Der Boden war wenig fruchtbar, der Ertrag reichte kaum zum Überleben:“Den ersten sien Dod, den tweeten sien Not, den dritten sien Brot.“
Einen Millimeter pro Jahr wächst ein Moor in die Höhe. Teilweise hatten die Hochmoorgebiete des Teufelsmoors eine Mächtigkeit um die neun Meter. Was so über neuntausend Jahre entstanden war, wurde in gut zweihundert Jahren bis auf wenige Reste, so um die vier Prozent der ehemaligen Fläche, verbraucht. Die Bevölkerung der nahen Städte Bremen und Bremervörde benutzten den Torf als Heizmaterial. Moorentwässerungskanäle und die Hamme boten sich als Transportwege für die schmalen Boote, die Hunten, an.
Die Moorbauern erzielten mit dem Brennstoffhandel ein kleines Einkommen und schufen die Grundlage für spätere Landwirtschaft. Überwiegend wurde Vieh auf den entstandenen Weiden gehalten. Mehr gaben die nährstoffarmen kargen Moorbodenreste nicht her. Das änderte sich erst, als intensiv gedüngt werden konnte. Und als der Torf industriell mit Maschinen abgebaut wurde, waren die Moore in wenigen Jahrzehnten ver- und zerbraucht. Landschaftliche Ruinen – zu darauf folgendem Kulturland geglättet.
Zum Günnemoor im Teufelsmoor
Von Bremen-Burg aus starte ich Richtung Worpswede. Auf guten Fahrradwegen komme ich zunächst schnell voran. Allerdings laufen sie separat geführt weitgehend an vielbefahrenen Straßen entlang. Die lasse ich gerne schnell hinter mir. Auf schlechter werdenden Wegen meiner selbstgewählten Route geht es zur Teufelsmoorschleuse der Hamme, wo ich mein erstes Quartier in der blauen Hütte des dortigen Campingplatzes gebucht habe. Ein guter Ort, wenn man das Teufelsmoor erkunden will. Kurz vorher wird es anstrengend. Das letzte Stück Weg ist eigentlich kein Weg mehr, sondern ein grasbewachsener Naturpfad, unter den wild wuchernden Grassoden zerfurcht von schwerem Landwirtschaftsgerät. Ich muss wohl beim Planen meiner Routen das nächste Mal noch etwas genauer hinschauen. Hinzu kommt ein heftiger Wind, der Bäume, Büsche und Schilf an der Hamme hin und her wirft.
Nach meinem ersten Fahrtag bin ich froh über einen Tag Hütten-Aufenthalt, um durch das ehemalige Günnemoor zu wandern. Der für Touristen beworbene und neu angelegte alte Verbindungsweg ist ist mit einigen Informationstafeln versehen. Ansonsten soll der Mensch nicht weiter stören. Die Landschaft rechts und links zu betreten ist mir nicht möglich. Kein Weg, kein Steg, alles dicht bewachsen. Der kärgliche Rest des Günnemoors wird so, wie auch einige Moorflächen anderswo in Niedersachsen, geschützt, um es zu erhalten.
Freitag
Denn mittlerweile wissen wir, dass mit den riesigen Moorflächen nicht nur unwiederbringlich Natur mit nur hier lebenden Pflanzen und Tieren verloren ging, sondern auch wertvolle CO2-Speicher. Eine bittere Erkenntnis in einer Zeit, in der sich die durch diese und andere menschlichen Einflüsse erwärmende Erdatmosphäre zu einer wachsenden Bedrohung der Menschheit entwickelt. In Niedersachsen, dem moorreichsten Bundesland, werden einige Anstrengungen unternommen, die letzten Restmoorgebiete zu erhalten und einige wieder zu vernässen. Doch bevor derartige Maßnahmen begonnen werden können, gibt es die gesellschaftlichen Gremien hoch und runter das übliche Procedere. In meiner Phantasie ist das ein ziemliches Durcheinander von Anträgen, Beratungen, Protesten, Abstimmungen, Wahlkämpfen, Deals, politischen Profilierungen, Begehungen, Vermessungen, Kalkulationen, Gutachten, Definitionen, Haushaltsberatungen, Zuwendungsbescheiden, Verwendungsnachweisen, Ausschreibungen… nun ja, alltägliche demokratisch-bürokratische Praxis. Aber was ist das schon gegen möglicherweise 9000 Jahre erneutes Moorwachstum. Und während ich durch das Moor gehe, sind überall in der Republik und weltweit wieder junge Menschen unterwegs. Es ist Freitag. Fridays for Future. Sie wollen nicht nur die Moore schützen. Sie haben Größeres im Sinn. Das Klima der ganzen Welt wollen sie vor dem schädlichen Einfluss der menschlichen Wirkens beschützen. Dafür kämpfen, damit es für sie eine Zukunft gibt. Da kann ich nur hoffen, dass es mit ihren Zielen schneller vorangeht, als mit der Regeneration der übrig gebliebenen Moore.
Das kleine Moor
Auf meinem weiteren Weg nach Bremervörde verlasse ich für einige Kilometer meine geplante Route und mache einen Abstecher zum Huvenhoopsmoor. Auf teilweise schlecht ausgeschilderten Wanderwegen werde ich an Wald und Wiesen, Wiesen und Wald, zeitweise rechts und links begrenzt von hoch aufgeschossenen Maispflanzungen vorbeigeführt. Ein Gefühl für Moorlandschaft will da nicht aufkommen. Hier war wohl mal Moor. Jetzt nicht mehr. Ich fühle mich ein wenig in die Irre geführt. Wer irgendwie eine Ahnung von Moorbekommen möchte, besteigt kurz vor Augustendorf den hölzernen Aussichtsturm und wirft einen Blick in die entfernt liegenden letzten Moorflächen. Oder besucht in Augustendorf den kurzen aber feinen Moorlehrpfad und den historischen Moorhof.
Ich treffe dort zufällig eine ehemalige Bewohnerin, die im erhaltenen Rauchhaus, einem mittelgroßen Bauernhaus, aufgewachsen ist. Mensch und Tier wohnten hier dicht beieinander unter einem Dach mit einer anfangs offenen Feuerstelle. Daher der Name Rauchhaus. Die alte Dame erinnert sich gerne an ihre Kindheit mit mehreren Generationen in dem Haus, dessen Verkauf sie immer noch ein wenig nachtrauert. Man hätte doch aus dem Haus noch einiges machen können. Ihr Trost ist, dass es erhalten und vom Museumsverein sinnvoll genutzt wird. Doch man müsste es noch einmal ordentlich gründen. Der Moorboden unter dem Haus sackt langsam ab. Ihre Gedanken sind immer noch hier, dem Ort ihrer Kindheit und Jugend. Und in ihrem Kopf spielt immer noch die Phantasie des „was wäre wenn“ mit einer Vergangenheit des Hauses in einer Zukunft, die heute ist.
Die Kraft der Gedanken
Unterwegs sehe ich eine Mutter mit ihrer ca. 6 Jahre alten Tochter. Diese fährt mit ihrem Kinderrad, Tornister auf dem Rücken, neben ihrer Mutter auf dem Gehweg. Es geht eine ordentliche Steigung hinauf. Im Rhythmus des langsamen und anstrengenden Pedalierens ruft das Mädchen immer wieder:“ Ich – schaf – fe -das – ich – schaf – fe – das -ich -schaf – fe -das …“. Sie schafft es. Die Augen der Mutter strahlen mindestens so kräftig wie die des Kindes.
Soweit der erste Teil von „Moor, Marsch, Geest“, verfasst im Oktober 2021. Weiter geht es mit der Fortsetzung in Teil 2. Dort findet ihr zum Abschluss auch wieder ein zusammenfassendes Video dieser Reise-Etappe.