Reiseverlauf.
Die erste Etappe findet vom 18. – 23.Juni 2021 zwischen Niedersachsen und Bremen statt. Sie führt mich an Leine, Aller, Weser, Wümme und Lesum von Hannover aus über Neustadt am Rübenberge, Schwarmstedt, Verden, Bremen-Oberneuland nach Bremen-Vegesack. Ich lege dabei 274 km zurück und fahre im Nordwestdeutschen Tiefland durch die hannoversche Moorgeest, das Aller-Weser-Flachland, ein Stück Wesermarsch und Stader Geest. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier die Links zu meinen Routen auf komoot: Von Hannover nach Schwarmstedt und von Schwarmstedt nach Vegesack.
Der Klang am Kanal.
Die Ruhe am Mittellandkanal beeindruckt mich seit jeher. Es ist keine Stille, keine Lautlosigkeit. Es ist die Ferne sanft hörbarer Geräusche in Verbindung mit dem leise plätschernden Wasser und dem Wind, der durch Büsche und Gräser streift. Sie sind präsent als Raumklang rundum, trennen diesen Ort von der umliegenden Welt und gleichzeitig verbinden sie ihn auf subtile Weise mit ihr. Das Ohr des Städters reagiert erst etwas ungläubig auf das, was das Auge ihm vermittelt: ein Industriebauwerk, eine künstlich geschaffene Wasserstraße – keine Oase der Erholung. Aber das tut sie ihm dann und wann schon kund. Die Geräuschkulisse beginnt, einen Vorhang aufzuziehen. Von einer Seite schwillt, stetig ansteigend, ein rhythmisches Geräusch. Ein Kanalschiff, ein sogenanntes GMS (Großgütermotorschiff), nähert sich. Tuckernd, stampfend, aber nicht aufdringlich verdrängt es die die luftigen Geräusche der Welt. Ein Rauschen, vom Bug herrührend, der das Wasser durchpflügt, kommt hinzu. Der Kahn schwebt vorbei, ohne Eile, und wie er auftritt, tritt er auch wieder ab. Langsam und gemächlich. Gleitet davon, ein Plätschern der von ihm geformten Wellen zurücklassend. Das Tuckern und Stampfen ebbt ab. Die klangliche Ruhe kehrt zurück. Es ist wie in der Musik. Pause und Klang brauchen sich gegenseitig, um zu wirken.
Die Leine.
Meine Begegnung mit dem Mittellandkanal findet dort statt, wo er in der Nähe von Seelze mittels einer Trogbrücke über die Leine geführt wird. Ein Wasserstraßenkreuz nennt man das. Ich bin sehr früh in Hannover gestartet. Der Wetterbericht sagt über 30° C voraus. Auf meiner ersten kurzen Tagesetappe nach Neustadt am Rübenberge möchte ich diese Hitze meiden und früh ankommen. Da die Leine, wie auch die Aller und die Weser, denen ich in den nächsten Tagen begegnen werde, stark mäandert, führt mein Weg meist in einiger Entfernung in Richtung der Fließrichtung am Fluss vorbei. Begegnungen mit ihm sind selten. Wie hier am Kanal. Die vielen Windungen des Flusses sind von meinen Wegen aus nicht wahrnehmbar. Die Leine heute erscheint als wenig genutzter Fluss. Nur bis 1847 hatte sie eine, allerdings schwankende, wirtschaftliche Bedeutung mit der Schifffahrt zwischen Bremen und Hannover. Danach löste die Eisenbahnlinie den Wassertransportweg zwischen den beiden Städten ab. Noch vorhandene stillgelegte Schleusen an der Wasserkunst Hannover und der Kleinen Leine in Neustadt am Rübenberge zeugen von dieser Zeit. Die Leine verkleidet sich in Neustadt und markiert kurz die wilde Frau. Ein Wegweiser zeigt den Weg zu den ‚Wasserfall‘ genannten Stromschnellen, die laut vernehmbar rauschend und heftig schäumend dem Schloss Landestrost gegenüber die Ehre zu erweisen scheinen. Das gibt sich aber wieder und das Wasser plätschert nach 278 Flusskilometern munter seiner Vereinigung mit der Aller bei Schwarmstedt entgegen.
Die erreiche ich am nächsten Tag bereits am frühen Vormittag, da ich zum Sonnenaufgang in Neustadt starte. So meide ich die auch für diesen Tag vorhergesagten hohen Tagestemperaturen.
Prinzessin.
Da die ehrenamtlich betriebene Gierseilfähre über die Aller bei Eickeloh coronabedingt nicht fährt, ergibt sich eine leichte Abweichung meiner geplanten Route hinter Schwarmstedt. Ich nehme den direkten Weg nach Ahlden. Dabei führt mein Weg durch schmucke Dörfer, die ihren Stolz, vor hunderten von Jahren gegründet worden zu sein, auf großen Zeittafeln verkünden und mit ihren aus dem typischen roten Backstein gebauten alten Bauernhöfen sichtbar dokumentieren. In Ahlden begegne ich einem Kapitel hannoverscher Adelsgeschichte. Es ist eine klassischen Tragödie, die später in England unter dem Titel „Saraband for dead lovers“ – zu deutsch: Königsliebe – mit prominenter Besetzung verfilmt wurde. Der spätere englische König Georg I. verbannte seine Cousine und Gattin Sophie-Dorothea von Braunschweig-Lüneburg 1694 wegen Untreue in das an der Alten Leine gelegene Schloss Ahlden. Die ungeliebte Heirat mit ihrem Mann war eine erzwungene Zweckehe zum Erhalt des Vermögens und Landbesitzes ihrer Familie. Mit ihrem Geliebten, Graf Philipp Christoph Graf von Königsmarck, plante sie die Flucht aus dem ehelichen Gefängnis. Der Plan wurde jedoch durch eine Intrige verraten. Der Graf endete vermutlich als Mordopfer, jedenfalls verschwand er für immer. Sie wurde nach der Scheidung von ihrem ungeliebten Gatten, von 40 Soldaten bewacht, im Schloss Ahlden eingesperrt. Hier war sie fürstlich untergebracht und versorgt, bis auf die eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Daraus resultierende Bewegungsarmut und sicherlich gute Ernährung führten bei ihr zu Fettleibigkeit, an deren körperlichen Folgen sie 32 Jahre später starb. Welch ein Drama!
Die Düne.
Mein Weg begleitet die Aller durch das von der vorletzten Eiszeit geformte Aller-Urstromtal als Teil eines noch mächtigeren Urstromtals, dessen früheres Ausmaß von Bremen bis Breslau in Polen reichte. Die Eiszeiten haben einen entscheidenen Anteil an dem geologischen Relief der Landschaft, durch die ich mein Fahrrad auf unterschiedlichen Wegen und Pfaden lenke. Die letzte, die Weichsel-Eiszeit, lagerte den Sand der Lüneburger Heide ab, der Wind blies feinere Anteile, den Löß, daraus weiter. So entstanden davor die landwirtschaftlich wertvollen Lößböden bis in das Calenberger Land von Hannover. Anderswo sammelten sich Tümpel und Seen. Sedimente setzten sich in ihnen ab, abgestorbene Pflanzenteile zersetzten sich wegen Sauerstoffarmut darin nicht und schufen so die weiten norddeutschen Moore. Sie sind der Ursprung intensiv landwirtschaftlich genutzter Kulturlandschaft, durch die ich bis weit in Richtung Nordsee fahren werde. Diese entstand in der heutigen Form durch die Vernichtung der Moore durch Entwässerung und Torfabbau. Mit ihnen verschwanden in Jahrtausenden entstandene wertvolle CO2-Speicher. Einige sollen jetzt mit viel Aufwand durch Wiedervernässung renaturiert werden. Wie lange das wohl dauern wird? Eine heute noch sichtbare Hinterlassenschaft des zurückgehenden Eises vor 15000 Jahren sind die Verdener Dünen. Es sind Sandhügel, wie sie auch das Auf und Ab der Heidelandschaft bestimmen. Es gibt nur noch wenige sichtbare Relikte dieser Landschaftsform. Die meisten verschwanden durch Aufforstung, Sandabbau und Pflanzenbesiedlung im Laufe der letzten Jahrhunderte.
Das ‚gespottete‘ GMS.
Was bin ich doch für ein Glückspilz! Jedenfalls kommt es mir so vor, wenn ich auf die Forumsseite des binnenschifferforum.de schaue. Was das ist? Wie ich dazu komme? Also der Reihe nach. Ich bin unterwegs von Verden nach Bremen. Die Wolken hängen tief. Die Rotorblätter der Windräder wischen durch ihr Grau hindurch wie das Messer durch Sahne. Auch mir ist, als fahre ich durch Wolken, so feucht fühlt sich die Luft an. Seit ich die Aller erreichte, fahre ich häufig längs von Deichen. Bei Eissel, kurz hinter der Allermündung in die Weser, komme ich an einen Schleusenkanal. Ein bekanntes Geräusch läßt mich aufhorchen. Ich halte an und gehe eine Treppe hinauf zur Deichkrone. In Richtung Schleuse verschwindet ein tiefgehender Kanalkahn.
Ich bin neugierig. Mit dem Fahrrad eile ich hinterher. Wie sich herausstellt, bin ich etwa doppelt so schnell wie das beladene, schwer stampfende Schiff. Ich überhole es und nehme ein kurzes Video auf. Dann fahre ich weiter bis hinter die Schleuse Langwedel und warte, bis sich das untere Schleusentor öffnet. Das GMS Lüssen 14, schwer mit Sand beladen, stampft an mir vorbei. Am Abend werde ich im Internet nach diesem Namen suchen und erstaunlich schnell fündig werden. Im Binnenschifferforum. Die Lüssen 14 ist ein Großgütermotorschiff, 80 Meter lang, 9,5 Meter breit, hat einen Tiefgang von 2,7 Metern, kann 1389 Tonnen laden und wird vorangebracht von einer MaK-Maschine mit 1000 PS Leistung. Alles klar? In dem besagten Forum halten sich Menschen auf, die u. a. begeistert mitteilen, wo und wann sie welches Schiff gesichtet haben. So auch die Lüssen 14. Seit 2008 sind immerhin zehn Sichtungen dokumentiert, von ‚Poettekucker‘, ‚Bilgenkrebs‘, ‚küstenklatsch‘, ‚Hein Mück‘ und wie diese Freaks alle heißen. Mit Beweisbildern. Von den ‚Schiffsspottern‘ selbst aufgenommen. Was doch alles gespottet wird auf der Welt. Ich könnte eine Tonaufnahme beisteuern. ‚Tonspotter‘ gibts auch schon lange. Hört mal bei Radio Aporee rein. Nach dieser Begegnung geht es weiter nach Bremen durch Marschland bis zum Weserwehr mit Schleuse und Wasserkraftwerk. Dort hört endlich der Regen auf, der kurz hinter Achim nach Überqueren der Weserbrücke eingesetzt hatte.
Weite Wiesen.
Ich möchte mich einfach nur hineinlegen in diesen aus vielfältigen Gräsern gemusterten Teppich. Ich stelle es mir herrlich vor. Doch mein Hang zu Heuschnupfen verhindert das. Eine Gruppe von Wachtelkönigen beäugt mich aus dem hohen Gras am Wegesrand. Zusehends aufgeregt rennen sie hin und her, schauen immer wieder zu mir herüber und nehmen dann doch Reißaus auf die andere Seite des Weges in das nächste Gebüsch. Sicher ist sicher. Die Ricke mit ihrem Kitz weiter entfernt bleibt gelassen und äst weiter. Auch ein Fasanenpärchen ist nicht sonderlich beeindruckt. Und die gemächlich kauenden Rinder auf der satten Weide nebenan sowieso nicht. Über allem liegen die Melodien der konzertanten gefiederten Tonziseliere. Sie schmettern, was das Zeug hält, schicken sich die neuesten Hits hin und her und verbinden alles zu einer nicht enden wollenden Partitur.
Meinen Tagesaufenthalt im Stadtteil Oberneuland am Stadtrand von Bremen nutze ich zur Erkundung der nahen Fischerhuder und Borgfelder Wümmeniederung. Hier befindet sich ein weites, offenes, von Grünland geprägtes Feuchtgebiet, das teilweise unter dem Meeresspiegel liegt. Die Wümme, aus der Nordheide kommend, hat hier ein Flussdelta gebildet, von dem der Nord-, der Mittel- und der Südarm übrig geblieben sind. In den letzten Jahrzehnten wurde die Bedeutung dieser einzigartigen Landschaft neu bewertet. Eine Reihe von Maßnahmen trug dazu bei, dass eine extensiv genutzte Kulturlandschaft mit großen Naturlandschaftsanteilen entstand. Renaturierung allerorten.
Am nächsten Tag folge ich der Wümme weiter flussabwärts und bin verwundert über den niedrigen Wasserstand. Hat der Flachlandtiroler aus Hannover noch nie etwas von Ebbe und Flut gehört? Natürlich, ich hätte die Auswirkungen der Gezeiten jedoch nicht hier, gut 60 km von der Nordsee entfernt, vermutet. Spätestens am Lesumsperrwerk, in die sich Wümme und Hamme auflösen, wird das offensichtlich. Und noch einmal wird klar, dass der Eingriff des Menschen in den Wasserhaushalt der Natur in der Wümmeniederung und ähnlichen Landschaften enorm ist. Allein das Schöpfwerk Wasserhorst, das ich passiere, kann bei Bedarf 14 Kubikmeter Wasser pro Sekunde aus dem Maschinenfleet in die Lesum pumpen. Siele, Fleete, Schöpfwerke, Gräben, Wettern, Stauanlagen – aus den ersten Entwässerungsgräben der Bauern. Vor Jahrhunderten wurden mit der Zeit leistungsfähige und komplizierte Wasseregulierungsbauten. Sie sollen in ihrer Gesamtheit alles unter einen Hut bringen: sowohl den Bedarf der Vegetation auf Wiesen und Weiden, des Viehs – die Gräben sind Tränke und natürliche Zäune zugleich – als auch den der Sportbootfahrer. Und bei starken Regenfällen die Kanalisation der Stadt entlasten.
Die Lesum mündet schon nach etwa 10 km ihres Entstehens beim Vegesacker Hafen in die Weser. Dort, wo das außer Dienst gestellte Segelschulschiff ‚Deutschland’ für immer festgemacht hat, endet meine Etappe.
Von mir verfasst im Juli 2021. Seid alle gegrüßt.Bis zum nächsten Mal. Bernhard Weiland, euer ‚Alter Mann am Fluss’. Und zum Schluss wieder ein paar Bilder in Bewegung.