Die elfte Etappe findet vom 31.August bis 6.September 2023 in Brandenburg und Berlin statt. Ich verlasse die Oder Richtung Westen und orientiere mich am Verlauf der Spree. Von Frankfurt/Oder aus gelange ich über Eisenhüttenstadt, Müllrose, Berkenbrück und Erkner nach Berlin. Ich lege dabei insgesamt 199 km mit dem Fahrrad zurück und bin im nordostdeutschen Tiefland im Berliner Urstromtal unterwegs. Wer sich meine Etappe anschauen will, findet hier den Link zur Route (ohne meine Abstecher, Änderungen und Umwege) auf komoot. (Zur Routenkarte müsst ihr dort etwas nach unten scrollen. Die auf dieser sich öffnenden Seite befindlichen Fotos und Texte stammen von anderen Autor*innen.)
Navigation
Es ist mal wieder so wie bei meiner häufig nachlässigen Art, Fahrpläne zu lesen. Das hat mir in meinem Leben schon manches Mal Ungemach bereitet. Doch von Anfang an: Ich plane jede Tour zuhause auf dem IPad mit der komoot-App, einem digitalen Routenplaner. Dafür gebe ich Ausgangs- und Zielort vor und richte dann im Detail alles an meinem Thema „Flüsse weisen mir den Weg“ aus. Das funktioniert einfach und komfortabel. Wenn ich dann mit der so entstandenen Strecke zufrieden bin, übertrage ich sie kabellos auf mein Navigationsgerät. Das funktioniert auch einfach und komfortabel. So weit so gut. In Frankfurt/Oder (Ausgangsort) angekommen, starte ich auf meinem Navi die von mir geplante Route. Als das Gerät sich dann endlich bequemt hat, die Strecke zu laden, irre ich erst einmal auf dem Bahnhofvorplatz herum, um eine Ahnung zu bekommen, in welche Richtung mich das Gerät überhaupt lotsen will. Ich glaube, Brieftauben machen es ähnlich wie ich. Flattern erst einmal ein Runde aufgeregt dahin und dorthin, bevor sie sich für eine Richtung entscheiden. Ich habe also auf ähnliche Weise, natürlich flügellos, meine Richtung – sagen wir mal erschnuppert – und bekomme dafür die Bestätigung von meinem Richtungsweiser. Frohgemut starte ich meine Etappe nach Berlin (Zielort).
Hätte ich doch die Hinweise meiner Routenplanungs-App vorher genauer gelesen und ernst genommen! Nach wenigen Metern stehe ich mit meinem bepacktem Rad vor einem unüberwindlichen Hindernis. Sehr, sehr viele Stufen führen abwärts. Ich verwünsche meine sonst doch so hilfreiche App. Wie kann sie mich hier entlang führen? Ärger über Ärger! Doch ich sollte mich an die eigene Nase fassen. „Enthält Abschnitte, die über Stufen nach unten oder oben führen“, so steht es in klarer deutscher Schrift geschrieben und versehen mit der deutlichen Zahlenangabe „nach 117 Metern“. Wer lesen kann, hat mehr vom Leben. Doch: Warum haben mir die Algorithmen überhaupt diesen fahrradfremden Weg angegeben? Das wissen die mathematischen Digitalgötter. Die mich direkt anschließend eine schmale, von Brombeeren gesäumte Piste, steil wie eine Skiflugschanze, hohl wie ein ausgetrockneter Bergbach, sandig wie der Strand von Sylt, hinunterrutschen lassen. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen schaut weit unten ein junger Mann, staunend auf den Stufen eines benachbarten Hauses sitzend, dem alten Mann mit dem signalfarbenen Helm auf dem weißen Haarschopf zu, wie er versucht, sein schwer bepacktes Fahrrad zu Fuß nebenher rutschend in der Spur zu halten. Was haben sich die Algorithmen nur dabei gedacht! Für derartige Strecken ist mein Faltrad mit seinen 20-Zoll-Reifen eigentlich nicht gebaut. Zum Glück hielt es bisher allen Unbilden, denen wir gemeinsam begegneten, robust stand. Chapeau! Auf weitere gute Zusammenarbeit!
Geheimtipp
Erleichtert erreiche ich am Ende meiner gefährlichen Rutschpartie festen Asphalt unter den Reifen. Geruhsam steuere ich nun am beschaulichen Rand der Stadt entlang der weiten Oderwiesen in Richtung Norden. Endlich kann die weitere Reise beginnen. Am Brieskower See erreiche ich dann direkt die Oder. Unten am Fluss treffe ich einen Angler. Er hat Barsche erspäht und tunkt die Route erwartungsfroh in das am Rand einer Buhne träge dahin fließende Wasser. Doch die Schuppentiere halten sich vom Haken fern. So hat der Petrijünger Zeit für einen kurzen Smalltalk mit mir. Am Ende verrät er mir sogar einen Geheimtipp: Ungefähr achthundert Meter von hier, am Ende des Brieskower Sees, sollen sich historische Gebäude befinden, von denen nur wenige wissen. Sie sollen Teil einer Regattastrecke gewesen sein, die für die Olympischen Sommerspiele 1936 errichtet wurde. Obwohl ich jetzt einen knappen Kilometer entgegen meiner Fahrtrichtung auf einem alten DDR-Plattenweg zu einem ungewissen Ziel zurücklegen muß, mache ich mich auf den holprigen Weg. Einen Geheimtipp eines kundigen Einheimischen, den er einem unkundigen Fremdling verrät, darf der nicht einfach ignorieren. Der Weg endet in einer offenen Uferlandschaft zwischen See und Fluss auf sandigem Grund, bestanden mit niedrigem Buschwerk und wenigen lichten Bäumen. Ein auf breiten Betonstelzen ruhendes zweistöckiges quadratisches Türmchen steht einsam in der sich selbst überlassenen Natur. Eine eiserne Treppe führt in den ersten Stock zu einer verschlossenen metallenen Tür. Das Stockwerk darüber wirkt in seiner altertümlich daher kommenden Fachwerkmanier und einem nach allen Seiten leicht geneigten Dach irgendwie aufgesetzt. Die irgendwann abhanden gekommenen Fensterscheiben lassen das ganze Gebäude verloren wirken. Dennoch kommt es mir noch erstaunlich gut erhalten vor.
1936
Nach langem Suchen im Internet finde ich zu diesem Ort einen Text im Kommentarbereich von komoot:“… Der 1925 erfolgte Bau des Zielrichterturms und des Bootshauses zahlte sich aus: 1927 und 1928 kamen mehr als 4000 Zuschauer zu den Wettkämpfen! Vor den Olympischen Spielen in Berlin wurde der Brieskower See 1935/36 zu einer modernen, 2000 m langen Regattastrecke ausgebaut, die als „Ausweichstrecke“ vorgesehen war, falls es auf der Regatta in Grünau Probleme geben sollte. Dazu kam es letztlich nicht, … 1945 war die Tribüne nach zehn Wochen Grabenkampf ein Trümmerfeld; Bootshaus und Zielrichterturm trugen Granattreffer. Die Grenzpolizei der neuen Odergrenze wollte das Gelände schon abtragen lassen. Beherzte Kanuten aus der Belegschaft des Kraftwerks Finkenheerd und seiner Kohlegrube verhinderten dies und bauten innerhalb eines Jahres Bootshaus und Zielrichterturm wieder auf. …“ Dieser Text bezieht sich offenbar auf einen Beitrag auf faltboot.org. So geheim ist der Tipp des freundlichen Anglers, der im Wasser der Oder auf Barsche ging, dann letztlich nicht, aber recht speziell. Eine in der örtlichen Presse 2020 avisierte Informationstafel fehlt bis heute.
Stau
Ich kehre auf meine vorgesehene Strecke zurück und komme unterhalb des Oderdeichs auf gutem Weg voran. Regenwolken ziehen über den Fluss hinweg und stören immer wieder den blauen Himmel. Kündigen sie den Herbst an? Ich versuche mein Tempo so anzupassen, dass ich möglichst nicht nass werde; den Regenschleiern, hinter denen in der Ferne immer wieder Teile der Landschaft verschwinden, aus dem Weg zu gehen; die Lücken zu finden und hindurch zu huschen. Ganz gelingt mir das nicht. Ich ziehe vorsichtshalber meine Regenkleidung an. Immer wieder begegne ich auf meiner Fahrt Radtouristen, die mir entgegen kommen. Es ist noch Saison auf dem Oder-Neiße-Radweg Richtung Ostsee. Irgendwo unterwegs habe ich den östlichsten Punkt meiner Reise erreicht. Eine Herde Schafe interessiert sich für östlichste Punkte nicht die Bohne. Sie nutzt dickfellig den Weg in voller Breite und verursacht einen Verkehrsstau. Meine Bitte, mir doch den Weg freizugeben, erwidern die wolligen Tiere mit stoischer Nichtbeachtung. Ihre Hinterlassenschaften auf dem Radweg nach ausgiebiger Grünmahlzeit halten sich zum Glück in Grenzen, sind nicht flächendeckend. Das habe ich vor Jahren hinterm Deich an der Nordseeküste bei meiner letzten Begegnung mit dieser Tierart schon ganz anders erlebt. Da herrschte akute Sturzgefahr in einer alles bedeckenden glitschigen Masse.
Lost Place
Kurz bevor ich Eisenhüttenstadt erreiche, passiere ich am Oderdeich ein Industriegebäude, das als mächtige Ruine wie ein Gerippe aus Beton mit zwei gewaltigen Schornsteinen in die Höhe ragt. In ‚Fachkreisen‘ würde man dazu wohl „lost place“ sagen. Wie ein solcher hat dieser Ort auch seine eigene Geschichte. Als Strom produzierendes Kohlekraftwerk sollte es einmal mit einem Dutzend anderer baugleicher Kraftwerke in Nazi-Deutschland den Betrieb aufnehmen, um die letzten Reserven für die drohende Niederlage im Krieg gegen den Rest der Welt zu mobilisieren. Beim Bau dieses Kraftwerks wurden von 1943 bis 1945 jüdische und sowjetische Zwangsarbeiter eingesetzt. Energie sollte es liefern für Chemie- und Rüstungsfabriken, die in Fürstenberg (heute: Eisenhüttenstadt) errichtet worden waren. Es ging aber nie in Betrieb. Die Kriegsfront mit der Roten Armee rückte über die Oder vor. Auch die sinnlose Zwangsverpflichtung von Jugendlichen durch die SS zur Verteidigung des Werks nutzte nichts mehr. Die wenigsten überlebten. Nach dem Krieg gingen die technischen Einbauten als Reparationszahlung in die Sowjetunion. Ein Teil der Ruine wurde in den letzten Jahren mit EU-Mitteln abgerissen. Der Gesamtabriss wurde von Naturschützern verhindert, da das Areal mittlerweile von bedrohten Vogelarten und Fledermäusen besiedelt wurde. So verharrt es an Ort und Stelle und könnte doch geschichtliches Dokument und Mahnmal sein. Doch nichts weist darauf hin.
Flächendenkmal
In Architektur bin ich nicht nicht sehr beschlagen. Klassizismus, Heimatstil, Nationale Bautradition, Nachkriegsmoderne, mit diesen Begriffen verbinde ich nichts. Warum aber verbringe ich dann einen ganzen Tag in Eisenhüttenstadt? Mich interessiert, wie das Ergebnis der Planung einer ganzen Stadt in den fünfziger und sechziger Jahren ausgesehen haben mag und wie es heute noch aussieht. Im Touristenbüro besorge ich mir am Morgen eine Stadtkarte mit einem empfohlenen Weg durch die neuen Wohnkomplexe, die vom Anfang der fünfziger Jahren an nach und nach auf einer Kiefernheide aus dem Boden gestampft wurden. Für die bis zu 20.000 Beschäftigten des ebenfalls neu gebauten „Eisenhüttenkombinat Ost“ wurde parallel und direkt benachbart eine ganze Wohnstadt neu geplant und gebaut. Eine sozialistische Planstadt, vorgesehen als ideales Modell mit kompletter Infrastruktur, mit Krankenhaus, Schulen, Kaufhallen, Betreuungseinrichtungen für Kinder. Heute ist das gesamte zu Zeiten der DDR entstandene neue Ensemble ein geschütztes Flächendenkmal.
Gleich in der Nähe der Touristeninformation neben dem Friedrich-Wolf-Thater mache mich auf den empfohlenen Weg. Und bekomme als erstes die äußeren Zeichen einer seit 1989 um die Hälfte geschrumpften Stadt vor Augen geführt. Gleich nebenan an lautet die Adresse „Bauernmarkt“. Der Platz und alles ringsumher erscheint gähnend leer. Einzig ein unscheinbarer Stand mit reichlich drögem Obst und Gemüse bietet Lebensmittel aus Polen an. Der Restmarkt. Außer dem Händler gibt es keine weiteren Menschen hier. Entlang der auf das Stahlwerk zuführende Lindenstraße ist eine komplette Häuserzeile unbewohnt. Vor jedes zugemauerte Fenster in den ersten zwei Etagen sind mit gleichem Motiv bedruckte Textilien gespannt. Ein skurriles Fassadenbild.
Stalinstadt
Über den „Platz des Gedenkens“ und weite begrünte Innenhöfe mit viel Luft zum Atmen öffnet sich der Blick durch einen dieser als Bogengang ausgeführten Durchfahrten auf die “Straße der Republik“. Breit angelegt, die Fahrbahnen getrennt durch einen Grünstreifen, gesäumt von hellen Häuserfronten. Da werde ich unvermittelt von der Seite angesprochen. „Na, Stalinstadttourist?“ Bin ich ertappt? Nicht ganz. Tourist ja, Stalinstadt nein. Der ältere, offensichtlich indigene Radfahrer steigt von seinem Stahlroß älterer Bauart und signalisiert damit: Ich möchte reden. Ich zögere etwas. Dann lasse ich mich auf ein Schwätzchen ein. Wir reden über die Stadt, die für ihn wohl noch immer mit dem Namen des vormaligen sowjetischen Diktators verbunden ist. Ich halte mich an die aktuelle Lesart. Und zeige mich erstaunt über die luftige Bauweise dieser Planstadt der fünfziger Jahre mit ihren großen grünen Innenhöfen. Über die Möglichkeit, dort auch heute noch Wäsche zum Trocknen auf die zwischen den vorhandenen Wäschestangen geknüpften Wäscheleinen zu hängen. Über die großen breiten Zugangstore der Innenhöfe in alle Himmelsrichtungen. Ja, ja, pflichtet mir der Einwohner bei. Damals konnten „die“ ja diese Stadt ziemlich frei in den vormals vorhandenen Wald hinein planen. Möglichkeiten, wie sie Albert Speer (Anm.: als Kriegsverbrecher verurteilter Nationalsozialist) früher ja auch hatte … . Und dann bekommt der verdutzte Tourist im Schnelldurchlauf durch die Zeiten noch dieses und jenes mit auf den Weg als da wären: die eigentlich gute Planung der neuen Stadt; die mittlerweile leerstehenden Sozial- und Versorgungsbauten; das um tausende Arbeitskräfte geschrumpfte Stahlwerk; die um mehr als die Hälfte geschrumpfte Einwohnerzahl. Natürlich kommen auch die „Asylanten“ vor und ein Amtsrichter, der aus Duisburg nach Eisenhüttenstadt gekommen sein soll, um „denen“ mit harter Hand und strengen Maßnahmen das Fürchten zu lehren. Es ist eine krude Mischung in freundlichem Ton. Über all dies vergesse ich zu fragen, ob er im Eisenhüttenkombinat gearbeitet hat und ob er hier geboren ist. Wie er die Bemerkung mit Albert Speer gemeint hat. Und was denn aus dem harten Hund im Amtsgericht wurde und den von diesem per Gerichtsbeschluss zur Abschreckung kurzzeitig eingesperrten Asylanten. Doch dafür hätten wir wohl in einer Kneipe ein Bier trinken müssen. Und das hätte mir wahrscheinlich nicht sonderlich geschmeckt.
Namensänderung
Aus Fürstenberg wurde Stalinstadt, aus Stalinstadt Eisenhüttenstadt. Zwei Umbenennungen in wenigen Jahren. Kurze Episoden willkürlicher sozialistischer Geschichte, die ihr Fähnchen im Wind üblicherweise nach jeweiligen abrupten ideologischen Wendungen neu ausrichtete. Stalin fiel in Ungnade und der Name Karl Marx war da schon an Chemnitz vergeben. So blieb Eisenhüttenstadt übrig.
Einen guten Überblick aus der Sicht der Nachwendezeit über das Leben in der DDR-Episode der Stadt gibt das „Museum Utopie und Alltag. Alltagskultur und Kunst aus der DDR.“ mit seiner Dauerausstellung und wechselnden aktuellen Präsentationen. Es liegt auf meinem weiteren empfohlenen Weg, untergebracht in einem denkmalgeschützten früheren Krippen- und Kindergartengebäude. Gleich im Treppenhaus fällt ein typisches, überall im Stadtbild zu findendes Merkmal auf: Kunst am Bau. Im Museum in Form eines hohen, mehrgliedrigen Fensters mit figürlichen Motiven in bunten Glasmosaiken „Aus dem Leben der Kinder“, das ein breites Treppenhaus beherrscht. Wegen dieser zum Teil aufwendigen Kunstwerke, denen auch im Stadtbild viel Raum zugestanden wurde, steige ich später alle Stockwerke des Krankenhauses hinauf und schaue mich auch im Rathaus um. Überall reiche Bildkunst in unterschiedlicher Form, Farbe, Material und Stil. Allein dafür würde ich einen ganzen Tag zum Entdecken, Sehen und Verstehen benötigen. Wer mehr über das Leben und Aufwachsen in Stalinstadt-Eisenhüttenstadt erfahren will, möge sein Ohr dem fünfteiligen Podcast „Liechtenstein in Stalinstadt“ zuneigen, einer Auftragsarbeit des ‚Radio Berlin Brandenburg‘ und des ‚Museum Utopie und Alltag‘.
Ich werde platziert
Ich kehre zurück zur Lindenstraße. Auf meinem gesamten Weg herrscht auffallend wenig Verkehr auf den Straßen, die Ränder sind nicht überall bis auf den letzten Meter zugeparkt. Und die in den Innenhöfen abgestellten PKW fallen mir nicht weiter auf. Ein Bild, an das ich mich paradoxer Weise erst gewöhnen muss. Zum Abschluss meiner Flanierstrecke werfe ich noch einen Blick durch den Sicherungszaun auf das seit 23 Jahren stillgelegte und vor sich hin rottende Gebäude des ‚Hotel Lunik‘. Ein ‚Lost Place’, für den man sich über eine am Zaun ausgehängte Telefonnummer für eine Besichtigung anmelden kann. Den Tag beende ich im alten „Aktivist“, einem Restaurant seit DDR-Tagen, heute als Baudenkmal innen und außen saniert. Ich habe Glück und bekomme noch einen gemütlichen Platz zum guten Essen. Natürlich erst nach kurzer Wartezeit, auf dass ich nach alter DDR-Sitte „platziert“ werde. An einem Nebentisch wird das Essen auf ungewöhnliche Art gebracht. Ein Servierroboter fährt beladen vor und singt mit Konservenstimme ein Geburtstagsständchen. Sein digitales Gesicht produziert dazu ein Strichmännchen-Maschinenlächeln auf das Display, bevor wieder echte Menschen die Bedienung übernehmen.
Naturlehrpfad per Faltrad
Ich fahre doch kein Gravelbike! Ein Mountainbike auch nicht! Damit hätte dieser Singletrail sicher manchem Outdoorfan riesigen Spaß gemacht. Nix verstanden? Zu viele Fremdworte? Ich erkläre mal mit Wikipedia: “Der Begriff Singletrail (englisch Singletrack) steht für einen Trampelpfad, der so schmal ist, dass man dort nicht nebeneinander fahren oder laufen kann. Zunächst fand er Verwendung im Bereich des Mountainbike-Sports, in letzter Zeit wird er ebenfalls im Bereich des Trailrunning verwendet. In der Regel sind Singletrails etwa 30 bis 60 cm breit. Oft wird mit dem Begriff auch ein Wanderweg bezeichnet, der für das Mountainbike-Fahren oder Trailrunning genutzt wird.“ In meinem Fall ist es ein ‚Naturlehrpfad‘ entlang eines Gewässers namens ‚Planfließ‘ im Gebiet des ‚Forst Siehdichum‘, der sich vor mir auftut. Nein, was sage ich! Nicht auftut, sondern eher verschließt, verbirgt. Zugewachsen mit stacheligen Brombeerranken und Brennesseln. Kaum sichtbar noch. Ich steige ab und schiebe mein beladenes Falt-Ebike mit seinen 20-Zoll-Reifen auf schmalem Pfad durch dieses Gewirre und hoffe, dass die Reifen mit integriertem Pannenschutz halten, was sie versprechen. Ich habe keine Lust, in der Einsamkeit dieses Waldes mein Flickzeug bemühen zu müssen. Unterhalb meiner dreiviertellangen Hosenbeine ist von den wuchernden wilden Pflanzen alles zerkratzt und brennt auf der Haut. Meinetwegen, sei’s drum. Hauptsache keinen Platten kriegen. Ich komme nur langsam voran, da ich vorsichtig schieben muss. Immer wieder springen abgebrochen Äste zwischen meine Speichen. Einen Speichenbruch kann ich auch nicht gebrauchen. Die Reifen halten, die Speichen auch. Glück gehabt. Der Pfad weitet sich, allerdings sehe ich mich dort mit einigen steilen Anstiegen konfrontiert, die ich nur mit der Schiebehilfe meines Elektromotors bewältigen kann. Dann weitet sich auch der Wanderweg und findet einen Ausgang aus dem Wald. Ich komme wieder fahrend voran. Nobody is perfect, auch meine Planung nicht. Shit happens. Auf diese Strecke hätte ich gern verzichtet.
Wasserscheide
Ich hatte von Eisenhüttenstadt aus in westliche Richtung fahrend die Oder verlassen und richte mich nun kurzfristig an Gewässern aus, die mich zur Spree bringen werden. Auf halbem Wege zwischen Bremsdorf und Bremsdorfer Mühle erreiche ich also aufatmend wieder ‚richtigen‘ Fahrradweg unter den Reifen und steuere auf die ‚Wasserscheide Nordsee – Ostsee‘ zu. Eine Wasserscheide stellte ich mir immer wie einen Kammweg auf einer Anhöhe vor, wo es links und rechts jeweils in Gegenrichtung abwärts geht. Dergleichen nehme ich an dem mit einem Schild markierten Ort aber nicht wahr. Im Gegenteil, es geht in Fahrtrichtung weiter aufwärts. Wie sollen sich hier die Wasser scheiden? Ich weiß es nicht. In einem schlauen Buch mit dem Titel „Siehdichum“ über einen Teil der Gegend, die ich ein Stück durchfahre, hat sich der Autor U.Rada genau darüber Gedanken gemacht und ordentlich recherchiert. Das Kapitel nennt sich – wer hätte es gedacht – „Wasserscheide“ und ist recht spannend zu lesen
Kurort?
In der ‚Bremsdorfer Mühle‘ will ich rasten und mich an einem lokalen Fischgericht laben. Doch das Gasthaus ist geschlossen. Es hat im letzten Jahr gebrannt. In Dammendorf, kurz danach, lockt die ‚Schlaube-Perle‘. Da bleibt in diesen Tagen aber auch die Küche kalt, weil vor den Türen das später beginnende Dorffest versorgt werden muss. Für einen parallelen Betrieb reichen die personellen Kapazitäten nicht aus. Oder wie die Seniorchefin es ausdrückt „Wir können nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.“ Also verspeise ich aus meinem mitgeführten Notfallproviant zwei Müsliriegel und beschließe, den eigentlich vorgesehen Weg per Rad durch das Schlaubetal nach Müllrose zu streichen. Die beschwerliche Offroad-Tour über den Naturlehrpfad am Planfließ entlang hat mir vorerst den Nerv geraubt. Weiter geht’s dank vorhandenem mobilen Netz und digitalem Google-Kartenwerk auf geänderter Route und angenehm fahrbaren Wegen vorbei am ‚Forsthaus Siehdichum‘ nach Müllrose. Erst fühle ich mich wie in einem Kurort und setze mich in ein Eiscafé am nördlichen Ufer des Großen Müllroser Sees. Doch die Eiskugeln sind krümelig und durchsetzt von Wassereiskristallen. Gleich nebenan dominiert ein Bestattungsunternehmen die Sicht auf das kleine Stückchen Promenade am Seeufer. Das passt für mich nicht zusammen. Der zentrale Markt ist auch ohne Kurortflair, dient als großer Parkplatz für einige wenige PKW. Einzig eine kleine lokale Bäckerei und ein Bäckereicafé einer Kette sorgen für Publikumsverkehr. Ein vormaliges Gasthaus ist längst stillgelegt.
Auf dem Weg zu meiner im Ort gebuchten Pension am Oder-Spree-Kanal, dem ich bereits in Eisenhüttenstadt begegnete, fahre ich an einem weiteren geschlossenen Gasthaus vorbei. Es scheint schwierig zu sein für Gastronomie und Beherbergung in diesen Zeiten. Das an die Pension angeschlossene Restaurant stellt gerade von Vollzeitbetrieb auf Öffnung an wenigen Tagen in der Woche um. Ein Koch und zwei Servierkräfte müssen den Betrieb aufrechterhalten. Da gibt es dann für Pensionsgäste auch kein Frühstück an allen Tagen mehr. Und die Kosten! Für ein in der Küche nicht komplett selbst hergestelltes, sondern lediglich erhitztes Gericht, also ein sogenanntes Covenience-Produkt aus Konserve und Tiefkühltruhe, zwanzig Euro berappen zu müssen, ist für mich schwer zu verdauen. Doch letztlich bin ich froh, überhaupt etwas Warmes auf freundliche Art serviert zu bekommen.
Vergeblicher Stopp
Meine Wanderung im Schlaubetal vom Kupferhammer, einem der früheren vielen Mühlenstandplätze an dem Gewässer, nach Müllrose am nächsten Tag ist enttäuschend. Viel Wald, viel Weg, wenig Schlaube. Die höre ich nur ab und zu irgendwo zu meiner Rechten mal rauschen, mal schweigen, mal plätschern. Nicht zu vergleichen mit meinem lebendigen Erlebnis im Tal des Nonnenfließ auf der vorletzten Etappe. Wahrscheinlich hätte ich doch lieber die Strecke von der Bremsdorfer Mühle zum Kupferhammer gehen sollen. Diesen Weg, den ich gestern als Fahrradstrecke spontan und kurzfristig verworfen hatte. Doch nur eine einzige Busabfahrt der sonntäglichen Ausflugslinie für die Rückfahrt nach Müllrose schrecken mich. Das Risiko, sie zu verfehlen, ist mir zu groß. Und die Hinfahrt zum Ausgangspunkt meiner Wanderung scheint mir Recht zu geben. Am Müllroser Markt steige ich pünktlich mit anderen Wanderern ein. Doch an der planmäßigen Haltestelle ‚Kupferhammer‘ will der Fahrer partout nicht anhalten. Er ignoriert mein Drücken des ‚Stopp-Knopfes‘, er ignoriert mein Rufen. Erst auf heftigen lautstarken Protest aller Fahrgäste, die dort aussteigen wollen, hält er nach hunderten von Metern an. Mürrisch öffnet er uns die Tür irgendwo im Wald am Straßenrand. In einer Sprache vor sich hin brabbelnd, die ich nicht verstehe, lässt er uns endlich aussteigen. Zuverlässig geht anders. Und dort entschließe ich mich, den direkten Weg nach Müllrose zu gehen. Um keinen Bus mehr nutzen zu müssen. Man kann ja nie wissen.
Am Strand
Ein Fahrradtourist aus der Schweiz ist einer der wenigen Menschen, die mir am nächsten Tag auf dem Fahrradweg, der den Oder-Spree-Kanal begleitet, begegnen. Natürlich verlangsamen wir unsere Fahrt, als wir uns sehen. Es ist immer angenehm, sich unterwegs mit ähnlich gesinnten Menschen auf zwei Rädern auszutauschen und ein wenig seiner Erfahrungen miteinander zu teilen. Und wenn es nur kurz ist. So wie wir auf dem Fahrradweg am Oder-Spree-Kanal halten, versperren wir zwar den Weg, stören aber niemanden, weil niemand weiter kommt. Gute Fahrt, guten Weg, so geht es in gegenläufige Richtung weiter. Er der Lausitz entgegen, ich in Richtung Berlin bei angenehmem Radelwetter auf richtig guten Wegen. Auch da und dort für längere Strecken durch die Brandenburger Kiefernwälder – wunderbar zu fahren. Am Dehmsee ist für kurze Zeit Schluss mit den Geräuschen des Waldes und des Wassers. Der ruhige Wellenschlag am Ufer wird dominiert und übertönt vom ewigen Rauschen der A12, die den See hier fast schrammt. Ob die Angler auf dem Wasser diesen Lärm noch wahrnehmen? Kurz vor Fürstenwalde erreiche ich das kleine Berkenbrück – mein Tagesziel. Auch hier stirbt die Gastronomie aus. Das Gasthaus an der Kreuzung geschlossen, das Café meiner Pension kürzlich aufgegeben. Auch Beherbergung und Küche der ‚Strand-Idylle’ am Arm der Fürstenwalder Spree hat die Türen zugesperrt. Am Abend setze ich mich auf eine Bank am wirklich idyllischen kleinen Strand davor und genieße den Sonnenuntergang hinter den Bäumen am jenseitigen Ufer. Auf dem spiegelglatten Wasser erscheint an der Biegung des Flusses ein Kajak und gleitet lautlos an mir vorüber zum nahegelegenen Bootssteg. Es ist still am Wasser, kein Lüftchen regt sich. Die Dunkelheit kündigt sich an. Ich kehre zurück in mein Zimmer für die Nacht.
Kampf ums Wasser
Fürstenwalde verlasse ich nach einem Zwischenstopp für ein zweites Frühstück. Bis hierher war die Spree vor dem Bau des Oder-Spree-Kanals schiffbar. Einige Informationstafeln entlang des Flussufers weisen da und dort auf Relikte von ersten Industrieansiedlungen aus dieser Zeit hin. Der Fluss war schon früh ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Wie alle Flüsse und Kanäle vor Beginn des Eisenbahnzeitalters. Und wieder fahre ich munter auf asphaltiertem Grund durch Wald, Wald, Wald. Bis ich hinter einem ausgedehnten Gewerbe- und Industriegebiet meine nächste Pension in Erkner erreiche. Sie liegt auf einem weiten Campinggelände an der Spree. Aber nicht der Fluss rauscht hier, sondern die direkt benachbarte A 10, der große Autobahnring rund um Berlin. Und könnte ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, würde ich von dem Platz aus die große, neu aus dem märkischen Kiefernwaldboden gestampfte Elektroautofabrik eines verrückten amerikanischen Multimilliardärs jenseits der Autobahn erblicken. Mit diesem Industriebauwerk entbrannte eine heftige Diskussion in der Region um die Nutzung des Grund- und Trinkwassers, die bis heute in aller Härte anhält. „Kampf ums Wasser im Tesla-Umfeld spitzt sich zu.“ titelt ein lokaler Radiosender. Es gärt im Wasserverband Strausberg-Erkner, da die zukünftig geplanten Trinkwasserressourcen offenbar nicht mehr für vorgesehene kommunale Projekte wie Schulen, Kitas oder auch neue Industrieansiedlungen ausreichen. Ein Fünftel der zur Zeit geförderten Menge verbraucht Tesla: 1,8 Millionen Kubikmeter jährlich. Herr Musk hatte bei einer früheren Besichtigung seiner Fabrikbaustelle über kritische Fragen zum Wasserproblem gelacht und gesagt:“ Diese Region hat so viel Wasser, schauen sie sich um“ und verwies auf die vielen Regenfälle. Nun ja, wer in den Weltraum strebt, wen kümmern da banale irdische Probleme.
Oberflächlich sieht es in Brandenburg auf meiner Reise in der Tat auch für mich so aus, als gäbe es das lebenswichtige Elixier im Überfluss. Wasser über Wasser, Flüsse, Seen, Fließe, Kanäle. Doch was wir Reisenden und viele andere Menschen nicht sehen, nicht mit eigenen Augen wahrnehmen können, ist das, was im Boden ist. Unterhalb unserer Wanderschuhe, unterhalb unserer Fahrradreifen. Der Grundwasserspiegel sinkt, wie der Dürremonitor des Helmholtz Zentrum für Umweltforschung zeigt. Besonders in Brandenburg, aber nicht nur dort. Nicht sichtbar, aber messbar. Wem gehört das Wasser? Wer darf es wie verteilen? Fragen, über die Politik und Verwaltung nicht nur vor Ort allein entscheiden können. Aber die lebenswichtig sind. Die Brandenburger streiten noch heute.
Träumen Mähroboter?
Ich sitze gemütlich bei einer Gerstenkaltschale vor meinem formidablen Pensionszimmer. Es ist die letzte Unterkunft vor der großen Stadt mit der Hektik der Straßen und Schienen, dem Gewusele auf den Plätzen und dem Gedränge in den S-Bahnen. Diesen Abend will ich in aller Ruhe genießen. Ruhe ja, aber Stille? Nein, da sei die ewig rauschende Autobahn vor, gleich hinter dem Zaun und dem Gebüsch und den Bäumen. Es ist kurz vor acht, die Sonne verabschiedet sich langsam über dem Horizont, und noch immer sind es warme 25 °Celsius. Die nächsten Tage sollen noch heißer werden. Hochsommer im deutschen September, während dort, wo gerade erst die großen Feuer loderten, in Griechenland, oder die große Hitze das Land plagte, in Spanien, unwetterartige Regenfälle Dörfer und Felder verwüsten.
Vor meinem abendlichen Sitzplatz befindet sich eine große grüne leere Rasenfläche. Ein Mähroboter zieht noch gemächlich seine Bahn, bis er blinkend stehen bleibt. Warum blinkt er? Ist er eingeschlafen? Wovon träumen Mähroboter? Vielleicht war ihm heute einfach nur zu warm. Vielleicht war ihm die Schnitterarbeit zu anstrengend. Vielleicht hat er aber auch keine Lust mehr, immer wieder die gleichen langweiligen Bahnen zu ziehen. Oder er hat Angst. Fürchten sich Mähroboter vor der Dunkelheit? Glauben sie an Geister? Oder ist heute der Welttag der ungehorsamen Maschinen? Denn schon auf dem Weg hierher meinte mein Navigationsapparat, selbständig entscheiden zu können. Vielleicht wollte er sich am Wasser der Müggelspree, die wir gerade passierten, nur ein wenig abkühlen. Brauchte eine Pause, Schutz vor der Sonne. Jedenfalls wurde ich von ihm mitten in der Fahrt aufgefordert, umzukehren. Das Navi gab böse schrillende Töne von sich, obwohl auf dem Display die korrekte Richtung angezeigt wurde. Die Richtung, die ich, sein Herr und Meister ihm vorgeben hatte. Trotzdem wurde ich zur Umkehr aufgefordert. Das klang mir ganz nach einer Glaubensfrage. Über derartige Fragen oder gar religiösen Zugehörigkeiten meines Navi war in seiner Gebrauchsanleitung nichts zu finden.
Doch bevor es hier zu einem Schisma oder einem nicht enden wollenden Glaubensstreit kommen konnte, stellte ich die kleine richtungsweisende Maschine entschlossen ab und startete sie neu. Auf neudeutsch: Da hilft nur ein Reset. Das wurde aber eher eine Strafe für mich denn für meinen Navi. Denn es benötigte zehn lange Minuten, um mit mir auf den rechten Weg zurückzukehren. Und mich zu dem Ort zu führen, wo ich den Abend genießen wollte. Dorthin, wo gerade ein Mähroboter glaubt, seine Dienste einstellen zu können und seinen Missmut blinkend kundtut. Das ruft den Platzwart auf den Plan. Der Platzwart ist das, was ein Kapitän für sein Schiff ist. Und über dem ist, so wird gesagt, nur noch Gott. Und dieser kommt gefahren in seinem Elektrokarren, um sich der vom rechten Wege abgekommenen armen Roboterseele zu erbarmen. Dem entsteigt der Käpt’n nach einigen Minuten der stillen Betrachtung der Szenerie und schreitet erhaben um die platte Maschine herum. Bückt sich und legt ihr prüfend da und dort die Hand auf. Kehrt zurück in seine Kutsche. Es vergehen wieder Minuten, die der Platzwart abwartend unter dem Dach seines Raumgleiters sitzt und den Mähroboter beobachtet. Und dann, wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, setzt die Maschine sich in Bewegung. Suchend erst und dann immer sicherer dem Ausgang der gemähten Wiese entgegen. Der Platzwart in seinem Elektrokarren ist längst zufrieden seiner Wege gefahren. Der wiederbelebte Mähroboter bewegt sich vorsichtig suchend auf einem Weg um die Ecke des langgezogenen Pensionsgebäudes und verschwindet langsam dahinter. So trollt er sich, vermutlich die nächste Energiequelle ansteuernd. Ich habe mein Kaltgetränk derweil geleert und ziehe mich, beeindruckt von den Maschinenerlebnissen des Tages, zum Energietanken in mein Bett zurück. Gute Nacht!
Fähr-Berlin
Ich komme mal wieder viel zu früh. Die erste Abfahrt der Personenfähre F 23, genannt FährBär 4, fängt auf dem Dach die Energie der Sonne ein und soll damit den Elektromotor, der die Schiffsmaschine antreibt, unterstützen. Und der arbeitet bei fahrplanmäßiger Abfahrt lautlos. Nur der Propeller läßt im Vortrieb das Wasser des großen Müggelsees klingen. Die Akustik eines Sees bei Windstille, wie an diesem Vormittag, ist eine ganz besondere. Von weitem dringen Stimmen herüber. Die Stimmen von Sportruderbooten und ihres Trainers, Touristen auf Hausbooten, Motorboote, alles gedämpft aber wasserklar. Frei von Hektik. Weil der Elektromotor der Fähre so lautlos arbeitet. Sowieso ist Berlin eine Wasserstadt. Durchflossen von Spree, Havel, Dahme, Panke, durchzogen von Kanälen, Fließen und Gräben, reguliert von Schleusen und Wehren, bestückt mit wohl 1000 Brücken. Dazu kommen 50 Seen. Dennoch wird die Region von der Senatsverwaltung als wasserarm eingestuft, der Grundwasserspiegel sank in den letzten Jahren stetig. Also auch hier: Was ich sehe, ist nicht unbedingt die ganze Wahrheit über das Wasser. Die Flüsse und besonders die Kanäle haben für die Geschichte Berlins eine elementare Bedeutung. Die Stadt, so wird gesagt, sei „aus dem Kahn gebaut“. Auf meinem Weg bis hierher bin ich unterwegs schon Belegen dafür begegnet. Zum Beispiel im Gebiet der Niederhavel. Dort, wo sich ein Tonstich an den anderen reiht und von den vielen Ziegeleien nur noch der Ziegeleipark Mildenberg von einer vergangenen Industrie übrig ist. Wo die Ziegel gebrannt und mit speziellen Kähnen über die Havel und Kanäle nach Berlin verschifft wurden. Die meisten Häfen der Millionenstadt aus der Zeit sind allerdings schon Geschichte. Einen Überrest soll der historische Hafen am Märkischen Ufer zeigen. Ich sehe aber nur einen Liegeplatz für historische Schiffe. Drei bedeutende Häfen der Neuzeit sind noch in Betrieb: der Westhafen, der Hafen Neuköln und der Südhafen Spandau.
Mein Weg über Gewässer in die Stadt hinein ist noch nicht zu Ende. Noch einmal geht’s mit einer FährBär-Fähre über die Dahme nach Grünau. Dort finde ich endlich nach 20 Fahrradkilometern seit dem Morgen ein kleines, aber feines Café an der Regattastraße. Zu meiner Überraschung gibt es frisch gebackene Natas, diese leckere portugiesische Spezialität. Das beste zweite Frühstück der Reise. Die Thekenmannschaft verkuppelt mich gleich mit einem fahrradbegeisterten Paar. So vergeht bei Reisefachsimpeleien meine Kaffeezeit wie im Fluge. Über den Kaisersteg pendele ich zurück auf das andere Spreeufer, bevor ich mit einer weiteren Fähre wieder hinüber setze. Berlin ist eine Wasserstadt.
DB
Die Rückreise von Berlin mit dem IC der Deutschen Bahn nach Hannover ist eine Katastrophe. Bevor ich mich wieder aufrege, wenn ich die Geschichte erzähle, hänge ich lieber das Mäntelchen des Schweigens darüber. Und empfehle stattdessen ein Stück Musik: „Deutsche Bahn“ von den ‚Wise Guys‘. Viel Spaß beim Hören, wie und wo auch immer.
Von mir verfasst im November 2023. Früher ging es diesmal nicht. Am Schluss wieder Eindrücke in bewegten Bildern von unterwegs. Es grüßt Euer „Alter Mann am Fluss“, wieder ein Jahr älter. Im nächsten Jahr geht’s weiter.